A B C D E F G H I J K L M N O P Q R S T U V W X Y Z
wirtschaftslexikon wirtschaftslexikon
 
Wirtschaftslexikon Wirtschaftslexikon

 

wirtschaftslexikon online lexikon wirtschaftslexikon
   
 
     
wirtschaftslexikon    
   
    betriebswirtschaft
     
 
x

PPS (Produktionsplanungs- und -steuerungs)-Systeme


Inhaltsübersicht
I. Zwecksetzungen von PPS-Systemen
II. Typen von PPS-Systemen
III. Entwicklungsperspektiven von PPS-Systemen

I. Zwecksetzungen von PPS-Systemen


Das Gebiet der Produktionsplanung und -steuerung umfasst die Gesamtheit von Entscheidungs- bzw. Dispositionsprozessen, die auf die jeweilige Aufstellung eines Absatz- bzw. Produktionsprogramms und die Festlegung des Vollzugs eines solchen Programms in mengenmäßiger und terminlicher Hinsicht ausgerichtet sind. Die betreffenden Entscheidungs- bzw. Dispositionsgrößen stellen Primärbedarfe im Sinne von Absatz- bzw. Produktionsmengen, Fertigungs- und Bestellaufträge sowie Auftrags- und Arbeitsgangtermine dar. Ein konkretes PPS-System zeichnet sich durch bestimmte Verfahrensweisen zur Festsetzung dieser Größen aus.
In der betriebswirtschaftlichen Theorie, speziell im Bereich des Operations Research für die Produktion, sind zahlreiche simultane PPS-Ansätze entwickelt worden. Mittels dieser Ansätze soll eine gleichzeitige, hinsichtlich der Zielsetzung Gewinnmaximierung bzw. Kostenminimierung optimale Bestimmung der jeweils einbezogenen PPS-Entscheidungsvariablen unter Beachtung unternehmensrelevanter Restriktionen erfolgen (Adam, D. 1969; Dinkelbach, W. 1964). Allerdings erreichen die betreffenden Modelle bei Abbildung realer Entscheidungssituationen eine Komplexität, die eine operationale Handhabung ausschließt. Die praxisrelevanten (umfassenden) PPS-Systeme sehen deshalb eine sukzessive Festlegung der Entscheidungs- bzw. Dispositionsgrößen entsprechend folgenden PPS-Teilbereichen vor:

-

Primärbedarfsplanung (Bestimmung von Absatz- bzw. Produktionszahlen),

-

Materialdisposition (Bildung von Fertigungs- und Bestellaufträgen),

-

Termindisposition (Festsetzung von Auftrags- und Arbeitsgangterminen).


Dabei stehen mit der Durchlaufzeitenminimierung, der Lagerbestandsminimierung, der Maximierung der Kapazitätsauslastung und der Termintreue nicht monetäre, teilweise konfliktäre PPS-Zielsetzungen im Vordergrund.

II. Typen von PPS-Systemen


Die auf einem Sukzessivplanungskonzept basierenden operationalen PPS-Systeme unterscheiden sich vor allem in folgenden Punkten:

-

Umfang der explizit berücksichtigten Entscheidungs- bzw. Dispositionsgrößen,

-

Art der eingesetzten Algorithmen bzw. Heuristiken zur Festlegung der PPS-Größen und

-

Ausmaß der Delegation von Entscheidungsbefugnissen.


Die Betonung letzteren Aspekts führt zu der üblichen Differenzierung in zentrale und dezentrale PPS-Systeme, deren bedeutendste »Vertreter« im Folgenden kritisch analysiert werden sollen.

1. Zentrale PPS-Systeme


Das MRP II-Konzept (Manufacturing Resource Planning) stellt die Basis bzw. den »Prototyp« zentraler PPS-Systeme dar. Dieses Konzept wird durchweg als »traditionelles«, teilweise sogar als »veraltetes« zentrales PPS-System gekennzeichnet. Hierbei wird offenbar übersehen, dass die »modernen« bzw. »dezentralen« PPS-Systeme auf wesentliche Bausteine dieses Systems zurückgreifen. Gerade die aktuellen PPS-Standardsoftwarepakete weisen i.d.R. eine methodische Struktur auf, die in weiten Teilen dem MRP II-Konzept mit den PPS-Teilbereichen Primärbedarfsplanung, Material- und Termindisposition entspricht.
Die Mehrzahl der auf das MRP II-Konzept zurückgreifenden EDV-gestützten PPS-Ansätze sieht in Verbindung mit der Primärbedarfsplanung lediglich Verfahren zur Absatzprognose und/oder Programmroutinen zur Kundenauftragsverwaltung vor. Die Bruttoprimärbedarfe als die in den einzelnen Teilperioden des Planungszeitraumes abzusetzenden Mengen bilden in diesem Fall keine Entscheidungsgrößen des betreffenden PPS-Systems, sondern Vorgabedaten für dieses System. Dies gilt dann grundsätzlich auch für die Nettoprimärbedarfe als die Produktionsmengen, die sich durch Abzug frei verfügbarer Lagerbestände von den Absatzzahlen ergeben. Die außerhalb eines PPS-Systems vorgenommene Primärbedarfsfestlegung birgt die Gefahr in sich, dass die betreffenden Werte nicht mit den Produktionsmöglichkeiten abgestimmt sind und insofern nicht termingerecht realisiert werden können. Eine gemäß dem »ursprünglichen« MRP II-Konzept im Rahmen einer mittelfristigen Grobplanung durchzuführende (produktgruppenbezogene) Primärbedarfsermittlung unter Berücksichtigung disponierbarer Ressourcen sehen nur wenige PPS-Standardsoftwarepakete vor (vgl. z.B. SAP R/3 PP-SOP). Allerdings bleibt dann weitgehend unklar, wie der Abgleich zwischen Primärbedarfen und Produktionskapazitäten unter Rückgriff auf angedeutete Simulationstechniken konkret erfolgen soll.
Einen methodisch relativ abgesicherten Kernbereich des MRP II-Konzeptes bildet das MRP I-System im Sinne einer programmgebundenen  Materialdisposition. Diese Disposition ist auf eine termingerechte und möglichst kostengünstige Bereitstellung der zur Deckung der vorgegebenen Primärbedarfe erforderlichen Materialien ausgerichtet.
Ausgehend von Nettoprimärbedarfswerten für die der höchsten Fertigungs- bzw. Dispositionsstufe zugeordneten Enderzeugnisse umfasst die programmgebundene Materialdisposition folgende, nacheinander zu vollziehende Schritte:

-

Zusammenfassung von Periodennettobedarfen zu wirtschaftlichen Auftragsgrößen,

-

Vorlaufverschiebung der (spätesten) Erledigungstermine der gebildeten Fertigungsaufträge um deren als Vorlaufzeiten bezeichnete Plandurchlaufzeiten; damit liegen die sog. Bedarfe für die Auflösung in Verbindung mit den (spätesten) Bereitstellungsterminen der zur Erfüllung der entsprechenden Aufträge direkt benötigten Materialien vor.

-

Terminierte Sekundärbedarfsbestimmung mittels Stücklistenauflösung, d.h. Multiplikation der Bedarfe für Auflösung mit den relevanten Produktionskoeffizienten,

-

Terminierte Bruttobedarfsermittlung durch (teilperiodenbezogene) Addition von Primärbedarfen in Form von Ersatzteilbedarfen zu den Sekundärbedarfen,

-

Terminierte Nettobedarfserrechnung durch Abzug frei verfügbarer Lagerbestände und erwarteter Materialeingänge infolge offener Aufträge von den Bruttobedarfen.


Nach Vollzug des letzten Schrittes ist der betreffende Dispositionszyklus neu zu durchlaufen, nunmehr für Zwischenprodukte, die auf der nächsttieferen Fertigungs- bzw. Dispositionsstufe auftreten. Dies muss so lange wiederholt werden, bis sämtliche Produkte in ihre Komponenten zerlegt sind.
Die Bestimmung von Bestellauslösungs- und Anlieferungsterminen für Fremdbezugsteile wird gewöhnlich dem Bereich der (programmgebundenen) Materialdisposition zugewiesen, während die Terminierung der Eigenfertigung erst im Rahmen des gesonderten PPS-Teilbereichs »Termindisposition« vorgenommen werden soll. Es ist allerdings zu beachten, dass über die Vorlaufverschiebung schon bei der programmgebundenen Materialdisposition eine (Grob-)Terminierung von Fertigungsaufträgen erfolgt, was zu ernsten Abstimmungsproblemen mit der eigentlichen Termindisposition führen kann. (Glaser, H./Geiger, W./Rohde, V. 1992).
Für den Bereich der Termindisposition sehen die auf das MRP II-Konzept zurückgreifenden PPS-Standardsoftwarepakete folgende, nacheinander durchzuführende Schritte vor:

-

Durchlaufterminierung,

-

Kapazitätsabgleich,

-

Feinterminierung bzw. Produktionssteuerung.


Die Ausgangsdaten der Durchlaufterminierung bilden die im Rahmen der Materialdisposition festgelegten Fertigungsaufträge mit den zugehörigen (spätesten) Fertigstellungsterminen. Mittels Rückwärtsterminierung sind dann ohne Berücksichtigung möglicher Kapazitätsengpässe vorläufige Grobstart- und -endtermine für die zur Erledigung der Fertigungsaufträge vorzunehmenden Arbeitsgänge unter Ansatz arbeitsgangbezogener Plan-Durchlaufzeiten zu ermitteln.
Im Rahmen des Kapazitätsabgleichs ist zunächst für jede benötigte Arbeitsplatz- bzw. Maschinengruppe, differenziert nach den einzelnen Teilperioden des Planungszeitraumes, die Kapazitätsnachfrage zu errechnen, die durch die mittels der Durchlaufterminierung festgelegten Arbeitsgangtermine induziert wird. Weisen die entsprechenden Belastungsprofile auf Ungleichgewichte zwischen Kapazitätsnachfrage und Kapazitätsangebot hin, sind Abgleichsmaßnahmen in Form von Kapazitätsanpassungen und/oder Nachfrageänderungen durch Terminverschiebungen zu ergreifen.
Die auf dem MRP II-Konzept basierenden Ansätze zur Feinterminierung bzw. Produktionssteuerung dürften in erster Linie auf Unternehmungen ausgerichtet sein, die Standardprodukte mit kundenspezifischen Varianten in (Klein-)Serienfertigung nach dem Werkstattprinzip erzeugen. Diese zentralen Ansätze sehen eine stunden-, teilweise sogar minutengenaue Bestimmung der effektiven Arbeitsgangstarttermine an den einzelnen Arbeitsplätzen bzw. Maschinen vor und mithin eine exakte Festlegung der jeweiligen Auftragsbearbeitungsreihenfolgen, die von dem Fertigungspersonal strikt einzuhalten sind. Die betreffende Reihenfolgeplanung soll dabei unter Verwendung bestimmter Prioritätsregeln erfolgen.
Eine zentrale Feinterminierung in der angesprochenen Form ist der gerechtfertigten Kritik ausgesetzt, dass ihre Resultate infolge einer durch Unsicherheit geprägten Dispositionssituation (z.B. unvorhersehbare Maschinenausfälle) häufig schon bei ihrer Entstehung überholt seien. Darüber hinaus wird bemängelt, dass die Vorgabe kaum realisierbarer Auftragsabfertigungsfolgen Akzeptanz- bzw. Motivationsprobleme beim Werkstattpersonal auslösen könne. Insofern sprechen gewichtige Gründe für den Einsatz dezentraler PPS-Systeme.

2. Dezentrale PPS-Systeme


Allgemein zeichnen sich dezentrale PPS-Systeme dadurch aus, dass Produktionsteilbereichen bzw. Produktionsstellen Entscheidungsbefugnisse zur eigenständigen Erfüllung bestimmter PPS-Funktionen übertragen werden. Die betreffenden PPS-Systeme unterscheiden sich dann u.a. in dem Umfang der delegierten PPS-Funktionen und in den Mechanismen zur Koordination (formal) entscheidungsautonomer Organisationseinheiten. Mit der Belastungsorientierten Auftragsfreigabe, der Retrograden Terminierung, dem Fortschrittszahlensystem und Kanban sollen nachstehend die gegenwärtig bedeutendsten dezentralen PPS-Systeme mit Praxisrelevanz skizziert werden.

a) Belastungsorientierte Auftragsfreigabe


Die Belastungsorientierte Auftragsfreigabe ist für Unternehmungen mit einer nach dem Werkstattprinzip organisierten Einzel- und (Klein-)Serienfertigung variantenreicher Produkte entwickelt worden. Es handelt sich hierbei um kein umfassendes PPS-System, sondern um einen speziellen Ansatz zu einem zentral durchzuführenden (kurzfristigen) Kapazitätsabgleich, dem sich eine dezentrale Produktionssteuerung anschließen soll.
Die Ausgangsdaten der Belastungsorientierten Auftragsfreigabe stellen die mittels einer Durchlaufterminierung (gemäß dem MRP II-Konzept) bestimmten (Soll-)Auftragsstarttermine dar. Die eigentliche Auftragsfreigabe umfasst dann folgende, nacheinander zu vollziehende Dispositionsschritte:

-

Ermittlung dringlicher Aufträge,

-

Abwertung von Auftragszeiten und

-

Bestimmung einzulastender Aufträge.


Als dringlich sind die Aufträge einzustufen, deren Starttermine vor einer als Benutzerparameter festzulegenden Terminschranke liegen bzw. in einen Vorgriffshorizont als Zeitspanne zwischen Planungszeitpunkt und Terminschranke fallen. Lediglich die dringlichen Aufträge werden im jeweils aktuellen Planungslauf der weiteren Freigabeprozedur unterworfen.
Bei der voraussichtlichen Inanspruchnahme eines Arbeitssystems ist davon auszugehen, dass ggf. nur ein Teil der (dringlichen) Aufträge im Falle einer Freigabe auch das betreffende Arbeitssystem in der Planperiode erreicht, wenn dieses System nicht an erster Stelle in der zu durchlaufenden Arbeitssystemfolge steht. Um die gewünschte Kapazitätsauslastung weitgehend zu erreichen, wird deshalb eine Abwertung der für die verschiedenen Arbeitssysteme geltenden Belegungs- bzw. Auftragszeiten entsprechend den jeweils errechneten Systemzugangswahrscheinlichkeiten vorgenommen.
Ausgehend von dem dringlichen Auftrag mit dem frühesten Sollstarttermin umfasst die eigentliche Freigabeüberprüfungsprozedur die jeweilige Probeeinlastung eines Auftrages unter Anrechnung der zugehörigen abgewerteten Auftragszeiten. Der betreffende Auftrag wird (für die Produktionssteuerung) dann freigegeben, wenn er kein Arbeitssystem beansprucht, dessen Belastungsschranke bereits vorher erreicht oder überschritten worden ist. Aufträge, die Systeme benötigen, deren Belastungsschranke bereits erreicht wurde, dürfen für die aktuelle Planungsperiode nicht freigegeben werden.
Die für die Arbeitssysteme geltenden Belastungsschranken bilden die entscheidenden Steuerungsparameter der Belastungsorientierten Auftragsfreigabe. Allgemein stellt die Belastungsschranke eines Arbeitssystems die Summe von Planabgang bzw. Plankapazität und angestrebtem mittleren Planbestand dar. Gemäß der sog. Trichterformel entspricht die mittlere gewichtete Arbeitssystemplandurchlaufzeit dem Quotienten aus dem betreffenden Planbestand und der mittleren Planleistung des Systems. Die Grundidee der Belastungsorientierten Auftragsfreigabe liegt nun darin, die Belastungsschranke unter Rückgriff auf diese Formel so festzulegen, dass durch die Auftragsfreigabe der mittlere Auftragsbestand erreicht wird, der zu der angestrebten mittleren (gewichteten) Durchlaufzeit führt. Zur Festsetzung der jeweiligen Belastungsschranke wird den Unternehmungen empfohlen, diese im Wege des »Probierens« schrittweise zu senken, bis gerade noch eine vollständige Kapazitätsauslastung bei Erreichung des »praktischen Minimums« der mittleren gewichteten Durchlaufzeit gewährleistet ist. Insofern bildet entgegen anders lautenden Behauptungen nicht die Durchlaufzeitenminimierung, sondern tatsächlich die Maximierung der Kapazitätsauslastung die dominierende Zielsetzung der Belastungsorientierten Auftragsfreigabe.
Die sich an die Auftragsfreigabe anschließende Produktionssteuerung soll in dezentraler Form von dem Fertigungspersonal vollzogen werden. Dabei sind die Auftragsbearbeitungsreihenfolgen unter strikter Einhaltung der First-come-first-served-Regel bzw. der Schlupfzeitregel festzulegen. Bei verbindlicher Vorgabe einer Prioritätsregel dürften die Fertigungsstellen entgegen der beabsichtigten dezentralen Steuerungskonzeption aber wohl kaum effektive Handlungsspielräume besitzen.

b) Retrograde Terminierung


Die Retrograde Terminierung (Adam, D. 1993; Dikow, U. 1993; Fischer, K. 1990) wird insb. für diejenigen Unternehmungen mit (kundenauftragsorientierter) Werkstattfertigung empfohlen, deren Fertigungsablauf durch einen »diskontinuierlichen Materialfluss«, d.h. relativ umfangreiche und stark schwankende Belegungszeiten der einzelnen Arbeitsgänge, oder durch eine »vernetzte Produktionsstruktur« (Adam, D. 1998, S. 663), d.h. Arbeitspläne mit (teilweise) nicht sequenziellen Arbeitsgangfolgen, gekennzeichnet ist. Das betreffende Konzept sieht die zentrale Durchführung einer Termingrobplanung mit integriertem kurzfristigen Kapazitätsabgleich vor. Hierbei werden Ecktermine für die Erledigung der Fertigungsaufträge sowie ggf. Maßnahmen zur Kapazitätsanpassung festgelegt, die als verbindliche Vorgaben für eine anschließende, dezentrale Produktionssteuerung dienen.
Als Daten gehen in die Retrograde Terminierung die jeweiligen Planfertigstellungstermine aller Fertigungsaufträge ein, die unmittelbar mit den Soll-Lieferterminen entsprechender Kundenaufträge bzw. Auftragsanfragen korrespondieren. Terminliche Abhängigkeiten der Aufträge untereinander, wie sie i.A. aus einer mehrstufigen programmgebundenen Materialdisposition resultieren, dürfen nicht vorliegen. Die für die Aufträge relevanten Arbeitspläne sind in verdichteter Form vorzugeben, indem je nach gewünschtem Detaillierungsgrad einzelne Arbeitsgänge zu sog. Arbeitsoperationen aggregiert werden. Analog werden sog. Steuereinheiten durch Zusammenfassung von Arbeitsplätzen gebildet. Diese Steuereinheiten stellen zum einen Objekte der Termin- und Kapazitätsplanung dar, zum anderen für die dezentrale Produktionssteuerung zuständige Organisationseinheiten.
Der rollierend zu durchlaufende Planungszyklus der Retrograden Terminierung gliedert sich in drei Stufen, die je nach vorliegender Fertigungssituation (lineare bzw. vernetzte Arbeitspläne mit jeweils gleicher bzw. unterschiedlicher Steuereinheitenfolge) und der Planung zugedachtem Aufgabenumfang (z.B. Einbeziehung von Maßnahmen zur Kapazitätsanpassung) unterschiedliche Planungsschritte umfassen.
In der ersten Stufe, der sog. Wunschterminierung, erfolgt für alle Aufträge eine Rückwärtsterminierung ausgehend vom zugehörigen Planfertigstellungstermin. Hierbei werden die jeweiligen Arbeitsoperationen unter Vernachlässigung möglicher Kapazitätsengpässe ohne Zwischen- und Endlagerzeiten eingeplant. Die resultierenden Wunschstart- bzw. -endtermine dienen den Heuristiken der nachfolgenden Planungsstufen als Grundlage.
Gegenstand der zweiten Stufe ist die Erstellung eines vorläufigen, zulässigen Belegungsplanes unter Berücksichtigung von Kapazitätsbeschränkungen und aus vorhergehenden Planungsläufen übernommenen sog. Altbelegungen der Steuereinheiten. Belegungskonflikte zwischen Arbeitsoperationen, die um die Kapazität einer Steuereinheit konkurrieren, werden dabei unter Anwendung einer Prioritätsregel gelöst, die in erster Linie an den jeweiligen Wunschterminen ausgerichtet ist. Eine umfassende Variante der Retrograden Terminierung erlaubt im Rahmen der zweiten Stufe gleichzeitig auch die jeweilige Anpassung der Kapazitätsangebote der Steuereinheiten an die vorliegenden Nachfragen. Im Allgemeinen wird der vorläufige, zulässige Belegungsplan progressiv aufgebaut, indem die Arbeitsoperationen aller Aufträge ausgehend vom Beginn des Planungszeitraumes in chronologischer Reihenfolge eingeplant werden. Daneben existiert für den Spezialfall identischer, rein sequenzieller Steuereinheitenfolgen aller Aufträge eine Verfahrensvariante, die auch in der zweiten Stufe eine Rückwärtsterminierung vorsieht.
Mit der dritten Stufe soll durch die Modifikation des vorläufigen Belegungsplans eine unternehmens- und situationsspezifisch ausgewogene Zielerreichung sichergestellt werden. Bei der entsprechenden Verschiebung der Belegungstermine sind insb. die Folgen für Kapazitätsauslastung und Fertigproduktbestände gegeneinander abzuwägen. Wurde der vorläufige Belegungsplan in der zweiten Stufe progressiv aufgebaut, so ist er in der dritten Stufe durch eine Verschiebung der Belegungstermine in Richtung Zukunft zu »entzerren«, um unter Inkaufnahme einer geringeren Kapazitätsauslastung die Fertigproduktbestände zu verringern. Ein retrograd aufgebauter Belegungsplan ist hingegen durch die Vorverlagerung von Terminen zu »komprimieren«, um eine höhere Kapazitätsauslastung auf Kosten steigender Fertigproduktbestände zu erzielen.
Weder die konkreten Verfahrensschritte der drei Stufen noch deren sequenzielle Abfolge sind strikt vorgeschrieben. So ist vorgesehen, die zweite Stufe im Falle der retrograden Erstellung des vorläufigen, zulässigen Belegungsplans mit der ebenfalls retrograden Wunschterminierung (erste Stufe) zu verzahnen. Bei progressiver Ermittlung der vorläufigen, zulässigen Belegung wird eine wiederholte Durchführung der betreffenden zweiten Stufe und der dritten Stufe in Betracht gezogen, um insb. die Termintreue zu erhöhen. Des Weiteren ist das Konzept ausdrücklich offen gegenüber der Modifikation einzelner Verfahrensbausteine, wie etwa dem Einsatz alternativer Prioritätsregeln für die Reihenfolgeplanung oder alternativer Heuristiken zur Kapazitätsplanung.
Die Ergebnisse der Retrograden Terminierung sind durch eine Reihe von Steuerungsparametern nach Maßgabe individueller Zielvorstellungen beeinflussbar. Konkret können folgende Parameter variiert werden:

-

Soll-Liefertermine für Auftragsanfragen,

-

Auftragsgrößen,

-

Sicherheitspuffer, die jeweils in den Arbeitsoperationszeiten sowie in den Planfertigstellungsterminen der Aufträge enthalten sind,

-

Parameter zur Bestimmung der jeweiligen Zeitpunkte, zu denen die Aufträge in der zweiten Stufe frühestens eingeplant werden (»Auftragsfreigabezeitpunkte«),

-

Parameter zur Kapazitätsplanung (z.B. durch Personalzuordnung),

-

Ausmaß der Terminmodifikation in der dritten Stufe und

-

Anzahl der wiederholten Durchläufe durch die zweite und dritte Stufe.


Da die Auswirkungen der betreffenden Steuergrößen nicht a priori quantifizierbar bzw. teilweise nicht einmal in der Tendenz absehbar sind, ist eine interaktive Festlegung im Trial-and-error-Verfahren vorgesehen. Die Prozedur der Retrograden Terminierung kann mit jeweils geänderten Parameterwerten wiederholt werden, solange dies im Hinblick auf die verfolgten PPS-Zielsetzungen aussichtsreich erscheint.
Mit der Retrograden Terminierung sollen die Mängel von PPS-Systemen überwunden werden, die bei der Termingrobplanung auf mittlere bzw. lediglich bestandsabhängig geschätzte Plandurchlaufzeiten zurückgreifen. Insb. im Zusammenhang mit einem diskontinuierlichen Materialfluss wird bei jenen Systemen die Gefahr gesehen, dass die effektiven Durchlaufzeiten in hohem Maße von der jeweils realisierten Auftragsreihenfolge abhängen und somit von entsprechenden Planwerten stark abweichen können. Folgerichtig werden bei der Retrograden Terminierung die Plandurchlaufzeiten als endogene Größen unter expliziter Berücksichtigung der einzuhaltenden Abfertigungsreihenfolgen bestimmt. Allerdings ist dann fraglich, inwieweit für eine dezentrale Produktionssteuerung überhaupt noch Entscheidungsspielräume im Sinne einer Wahlmöglichkeit zwischen alternativen Bearbeitungssequenzen verbleiben können, ohne dass auch die Ergebnisse der Retrograden Terminierung ihre Validität einbüßten. In Zweifel zu ziehen ist dies insb. bei den Verfahren ohne Kapazitätsanpassung, die stets zu überschneidungsfreien Belegungsintervallen für die jeweils in einer Steuereinheit zu verrichtenden Arbeitsoperationen führen. Eine andere als die hierdurch implizit festgelegte Bearbeitungsreihenfolge könnte nur unter Missachtung der für verbindlich erklärten Ecktermine verwirklicht werden. Bei den umfassenderen Varianten der Retrograden Terminierung, die von der Möglichkeit einer parallelen Bearbeitung mehrerer Operationen in einer Steuereinheit ausgehen, ist die Existenz von Spielräumen für die dezentrale Reihenfolgeplanung nicht ausgeschlossen, aber ebenso wenig systematisch sichergestellt.

c) Fortschrittszahlensystem


Das Fortschrittszahlensystem wird für die Unternehmungen als adäquates PPS-System herausgestellt, die Standardprodukte (mit Varianten) in Großserien mittels Fließfertigung ohne Zeitzwang erzeugen. Die Anwendung dieses Systems soll dann vor allem niedrige Lagerbestände bei stets ausreichender Materialverfügbarkeit gewährleisten.
Das Fortschrittszahlensystem basiert auf einer Untergliederung des Beschaffungs- und Produktionsbereichs einer Unternehmung in sog. Kontrollblöcke (z.B. Teilefertigung, Zwischenmontage, Endmontage). Zur Koordination dieser Organisationseinheiten sind für jeden Kontrollblock Soll-Fortschrittszahlen zentral zu ermitteln und vorzugeben. Bei einer Soll-Fortschrittszahl handelt es sich um die (kumulierte) Menge eines Erzeugnisses, die insgesamt bis zu einem bestimmten Termin mindestens bereitzustellen bzw. zu produzieren ist, damit ein vorgegebenes Absatzprogramm realisiert werden kann. Ausgehend von den entsprechenden Primärbedarfswerten erfolgt die Errechnung der Soll-Fortschrittszahlen mittels einstufiger Stücklistenauflösung als Spezialfall einer programmgebundenen Materialbedarfsplanung nach dem MRP II-Konzept.
Jeder Kontrollblock soll ein weitgehend autonomes Subsystem einer Unternehmung darstellen. Die formale Entscheidungskompetenz eines Kontrollblockleiters umfasst die selbstständige Festlegung von Auftragsgrößen und zugehörigen Auftragsterminen in Verbindung mit kurzfristigen Kapazitätsabgleichsmaßnahmen. Sofern allerdings bei einem Kontrollblock die für ihn geltenden Soll-Fortschrittszahlen exakt zu den spätest zulässigen Terminen erfüllt werden, verfügt ein auf die betreffenden Teilelieferungen angewiesener nachgelagerter Kontrollblock tatsächlich über keine Handlungsspielräume hinsichtlich Auftragsbildung und -terminierung.

d) Kanban


Ein regelmäßiger Teilebedarf und eine materialflussorientierte Anordnung der Betriebsmittel mit harmonisierten Kapazitätsquerschnitten gelten als die Einsatzvoraussetzungen für Kanban. Als spezielles Just in time-Konzept soll die Anwendung von Kanban dann eine weitgehend lagerbestandslose Fertigung bei Vermeidung von Fehlmengen sicherstellen.
Gemäß Kanban ist der Beschaffungs- und Produktionsbereich einer Unternehmung in nacheinander geschaltete Regelkreise zu strukturieren. Jeder Regelkreis besteht aus folgenden Elementen:

-

Quelle als Material bereitstellende bzw. erzeugende Stelle,

-

Senke als Material verbrauchende Stelle und

-

Pufferlager zwischen Quelle und Senke.


Ausgehend von dem jeweils aktuellen Absatzprogramm sind zentral im Wege einer einstufigen Stücklistenauflösung die in den einzelnen Regelkreisen auftretenden (durchschnittlichen), gewöhnlich auf einen Werktag bezogenen Materialbedarfe zu ermitteln. Diese Bedarfe bilden die Grundlage für die Bestimmung der jeweiligen Anzahl von (Produktions-)Kanbans im Sinne von Materialbehältern zugeordneten Karten, die als Informationsträger zur Materialflusssteuerung für einen Regelkreis in Umlauf zu geben sind.
Auftragsbildung und -terminierung sowie kurzfristige Kapazitätsabgleichsmaßnahmen sollen nach Kanban grundsätzlich dezentral, konkret auf der Regelkreisebene erfolgen. Allerdings hat jeder Regelkreis folgende, zentral vorgegebene Ablaufregeln verbindlich einzuhalten:

-

Die Senke darf in Holpflicht nur so viele Teile bzw. entsprechende Materialbehälter dem Pufferlager entnehmen, wie dies ihrem aktuellen (Werktags-)Bedarf entspricht.

-

Die Quelle muss unverzüglich genau die Teilemenge produzieren und bereitstellen, die gerade dem Pufferlager entnommen wurde. Dabei sind nur einwandfreie Teile (»Gutteile«) diesem Lager wieder zuzuführen.


In Anbetracht dieser restriktiven Regeln dürfte das Fertigungspersonal dann aber wohl kaum nennenswerte Handlungsspielräume besitzen.
Bei den angesprochenen dezentralen PPS-Systemen scheinen generell erhebliche Zweifel angebracht, ob Produktionsteilbereichen bzw. -stellen substanziell Entscheidungsautonomie hinsichtlich bestimmter PPS-Größen eingeräumt wird und die über »Job enrichment« bzw. »Job enlargement« angestrebten Motivationseffekte in Richtung von Produktivitätserhöhungen tatsächlich auftreten. Darüber hinaus ist kritisch anzumerken, dass die betreffenden Ansätze keine umfassenden PPS-Systeme darstellen, sondern mehr oder weniger auf das MRP II-Konzept zurückgreifen (vgl. Abb. 1) und insofern auch Schwächen des Konzeptes aufweisen.
PPS (Produktionsplanungs- und -steuerungs)-Systeme
Abb. 1: PPS-Systeme und Funktionserfüllung

III. Entwicklungsperspektiven von PPS-Systemen


Die »neuralgischen Punkte« sämtlicher praxisbezogener PPS-Systeme liegen in der unzureichenden Abstimmung der Entscheidungsgrößen mit den disponierbaren Produktionsressourcen und – eng damit verbunden – in der fehlenden bzw. unvollständigen Berücksichtigung der zwischen diesen Größen bestehenden Interdependenzen. Einen operationalen Ansatzpunkt zur Verbesserung der bisher entwickelten PPS-Systeme könnte der Rückgriff auf hierarchische Planungskonzepte darstellen (Drexel, A./Fleischmann, B./Günther, H.-O. et al. 1994). Danach bietet sich zunächst eine produkttypen- bzw. produktgruppenorientierte Primärbedarfsplanung unter Beachtung verdichteter Ressourcen an. Die betreffenden, kapazitätsorientiert ermittelten Primärbedarfe sollten dann die Vorgabewerte für die direkt untergeordnete Planungsebene bilden, auf der im Wege der zunehmenden mengenmäßigen und zeitlichen Detaillierung die kapazitätsmäßig zulässigen Ausbringungsmengen für die Produktgruppen bzw. Hauptprodukte (ohne die jeweiligen Varianten) festzulegen sind. Unter Beachtung dieser Planungsresultate wäre dann auf der nächsten Planungsebene eine genaue, nach Produktionsteilbereichen bzw. -segmenten differenzierte erzeugnisbezogene Auftrags- und Ressourceneinsatzplanung vorzunehmen, der sich auf der untersten Ebene eine für jedes Segment dezentral durchgeführte Feinterminierung anschließt. Je nach dem in einem Segment verwirklichten Organisationsprinzip der Fertigung sind hier unterschiedliche Planungsmodule zu entwickeln und einzusetzen.
Literatur:
Adam, D. : Produktionsplanung bei Sortenfertigung, Wiesbaden 1969
Adam, D. : Produktions-Management, 9. A., Wiesbaden 1998
Dikow, U. : Planung und Steuerung des Auftragsflusses bei nachfrageorientierter Kapazitätsplanung, Münster 1993
Dinkelbach, W. : Zum Problem der Prodktionsplanung in Ein- und Mehrproduktunternehmen, Würzburg et al. 1964
Drexl, A./Fleischmann, B./Günther, H.-O. : Konzeptionelle Grundlagen kapazitätsorientierter PPS-Systeme, in: ZfbF, 1994, S. 1022 – 1045
Fandel, G./François, P./Gubitz, K.-M. : PPS- und integrierte betriebliche Softwaresysteme: Grundlagen- Methoden- Marktanalyse, 2. A., Berlin et al. 1997
Fischer, K. : Retrograde Terminierung – Werkstattsteuerung bei komplexen Fertigungsstrukturen, Wiesbaden 1990
Glaser, H./Geiger, W./Rohde, V. : PPS – Produktionsplanung und -steuerung, 2. A., Wiesbaden 1992
Gottwald, M. K. : Produktionssteuerung mit Fortschrittszahlen, in: Neue PPS-Lösungen, hrsg. v. Gesellschaft für Management und Technologie mbH, , München 1982
Hackstein, R. : Produktionsplanung und -steuerung (PPS), 2. A., Düsseldorf 1989
Hahn, D. : Prozeßwirtschaft – Grundlegung, in: Produktionswirtschaft – Controlling industrieller Produktion, Bd. 2, hrsg. v. Hahn, D./Laßmann, G., Heidelberg 1989, S. 5 – 237
Hax, A. C./Golovin, J. J. : Hierarchical Production Planning Systems, in: Studies in Operations Management, hrsg. v. Hax, A. C., Amsterdam et al. 1978, S. 400 – 428
Hax, A. C./Meal, H. C. : Hierarchical Integration of Production Planning and Scheduling, in: Logistics, hrsg. v. Geisler, M. A., Amsterdam 1975, S. 53 – 69
Heinemeyer, W. : Die Planung und Steuerung des logistischen Prozesses mit Fortschrittszahlen, in: Fertigungssteuerung II, hrsg. v. Adam, D., Wiesbaden 1988, S. 5 – 32
Mertens, P. : Integrierte Informationsverarbeitung, Bd. 1, 14. A., Wiesbaden 2004
Mertens, P./Griese, J. : Integrierte Informationsverarbeitung, Bd. 2, 9. A., Wiesbaden 2002
Scheer, A.-W. : Wirtschaftsinformatik – Referenzmodelle für industrielle Geschäftsprozesse, 7. A., Berlin et al. 1997
Wiendahl, H.-P. : Belastungsorientierte Fertigungssteuerung, München et al. 1987
Wildemann, H. : Produktionssteuerung nach KANBAN-Prinzipien, in: Fertigungssteuerung II, hrsg. v. Adam, D., Wiesbaden 1988, S. 33 – 50
Zäpfel, G. : Grundsätze des Produktions- und Logistikmanagement, 2. A., München/Wien et al. 2001

 

 


 

<< vorhergehender Begriff
nächster Begriff >>
PPS (Produktionsplanung und -steuerung)
 
Präferenz