Kapitalismus
In der Wirtschaftssoziologie: [1] mit verschiedenen Bedeutungen benutzter Begriff der Sozialwissenschaften für die Wirtschafts- und Gesellschaftsform, die sich mit Ausgang des Mittelalters vor allem in Westeuropa entwickelt hat und heute insbesondere für die sog. westlichen Industrieländer kennzeichnend ist. Als Merkmale des Kapitalismus gelten allgemein: a) Die Güterproduktion geht unter Bedingungen des Privateigentums an den Produktionsmitteln vor sich, b) Grosse Teile der Bevölkerung besitzen keine Produktionsmittel, sondern müssen ein Lohnarbeitsverhältnis eingehen, um leben zu können, c) Die Triebkraft der wirtschaftlichen Prozesse ist das Interesse der Produktionsmittelbesitzer an Vermehrung des eingesetzten Kapitals, an Profitmaximierung.
[2] In der marxistischen Theorie die durch den Zwang zur Akkumulation von Kapital durch Verwertung bereits gebildeter Kapitale gekennzeichnete Gesellschaftsform, wobei Kapital nicht als Vermögen oder Geldsumme bestimmt ist, sondern durch seine Funktion: die Anwendung lebendiger Arbeit zum Zwecke der Produktion von Mehrwert. Der Preis (Wert) der Arbeitskraft bemisst sich nach den Kosten für die Reproduktion (Lebenshaltung) der Arbeitskraft, nicht nach den von der Arbeit geschaffenen Werten. Die durch diese Mehrarbeit geschaffenen Werte werden vom Produktionsmittelbesitzer privat angeeignet. Dem widerspricht der gesellschaftlich-kooperative Charakter des Produktionsprozesses. Insofern diese Wirtschaftsform nicht an der Erfüllung gesellschaftlicher Bedürfnisse ausgerichtet ist, sondern an der Vermehrung bereits akkumulierter Kapitale, an der Mehrwertproduktion, ist sie durch innere Widersprüche gekennzeichnet: Produktion und Zirkulation der Waren sind einander nicht geplant zugeordnet; die Produktion der Waren erweist sich erst im Austausch als Resultat gesellschaftlicher Arbeit; Krisen und Konjunkturen wechseln einander in Zyklen ab. Dem ungeplanten Verlauf des Wirtschaftsprozesses sind die Lohnarbeiter und die Mehrheit der Bevölkerung mehr oder weniger ausgeliefert. Indem der Kapitalismus allerdings, aus dem Zwang zur Mehrwertproduktion heraus, die Produktivität der Arbeit ungeheuer steigert und mannigfache technische und wissenschaftliche Bedingungen für eine gesellschaftliche Bedürfnisbefriedigung entwickelt sowie die Arbeiterklasse in der industriellen Grossproduktion zu gesellschaftlich-kooperativer Produktion organisiert, stellt er Bedingungen seiner Aufhebung her.
[3] Die Volkswirtschaftslehre sieht den Kapitalismus als ein wirtschaftliches System an, das am besten geeignet ist, die Produktivpotenzen der Gesellschaft zu entwickeln: indem die wirtschaftlichen Entscheidungen den Produktionsmittelbesitzern überlassen sind (ohne grösseren staatlichen Einfluss), sind diese durch Konkurrenz untereinander zu grösstmöglicher Ausschöpfung der gesellschaftlichen Ressourcen, zur Entwicklung neuer Produktionsverfahren und zur Erfüllung neuer gesellschaftlicher Bedürfnisse gezwungen. In diesem Modell hat der Profit die Funktion eines Anreizes für den Unternehmer, Kapital vorzuschiessen und die Produktion in Gang zu setzen, und gilt Kapital (Geld- und Sachmittel) als produktiv.
[4] Bei M. Weber haben Erwerbstrieb und Gewinnstreben nichts mit dem Kapitalismus allein zu tun, sondern finden sich in aller Geschichte. Kapitalismus begreift er als Tendenz zur Bändigung dieses irrationalen, gewalttätigen Erwerbsstrebens: „ Ein \'kapitalistischer\' Wirtschaftsakt soll uns heissen zunächst ein solcher, der auf Erwartung von Gewinn durch Ausnützung von Tausch-Chancen ruht: auf (formell) friedlichen Erwerbschancen also ... Wo kapitalistischer Erwerb rational erstrebt wird, da ist ein entsprechendes Handeln orientiert an Kapitalrechnung ..., es ist eingeordnet in eine planmässige Verwendung von sachlichen oder persönlichen Nutzleistungen als Erwerbsmittel derart, dass der bilanzmässig errechnete Schlussertrag der Einzelunternehmung an geldwertem Güterbesitz ... beim Rechnungsabschluss das \'Kapital\': d.h. den bilanzmässigen Schätzungswert der für den Erwerb durch Tausch verwendeten sachlichen Erwerbsmittel, übersteigen ... soll “ (M. Weber). In diesem Sinne hat es für Weber immer Kapitalismus gegeben. Der moderne Kapitalismus unterscheidet sich von diesen geschichtlichen Formen durch die freie Lohnarbeit, durch die rationale Verwaltung des Betriebs, durch die wissenschaftliche Berechenbarkeit der produktiven Faktoren und durch die Anwendung der exakten Naturwissenschaften. In seinen historischen Studien hat Weber insbesondere die Rolle des asketischen Protestantismus für die Herausbildung des kapitalistischen Geistes, der mit dem modernen Kapitalismus verbundenen Wirtschaftsgesinnung, herausgearbeitet.
[5] Da der Begriff Kapitalismus in den Klassenkämpfen eine Kampffunktion hat, weil er auf den gesellschaftlichen Grundwiderspruch und (im Zusammenhang sozialistischer Theorie) auf Möglichkeit und Notwendigkeit der Abschaffung des Kapitalverhältnisses hinweist, wird der Begriff von vielen Autoren und Gruppen als ideologisch zurückgewiesen. Statt dessen verwendet man „ Unternehmerwirtschaft “ , „ Freie Wirtschaft “ , „ Freie Gesellschaft “ , „ Freie Marktwirtschaft “ usw.
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