Marktwirtschaft
Inhaltsübersicht
I. Marktwirtschaft als Wirtschaftssystem und wirtschaftspolitische Handlungsanweisung
II. Wettbewerb als »Prozess der schöpferischen Zerstörung« und als »Suchprozess und Entdeckungsverfahren«
I. Marktwirtschaft als Wirtschaftssystem und wirtschaftspolitische Handlungsanweisung
1. Gegenstand
Marktwirtschaften sind Wirtschaftssysteme, die durch den Grundsatz dezentraler Planung in Verbindung mit freier Preisbildung, Leistungswettbewerb und privatem Produktionsmitteleigentum gekennzeichnet sind. Als wirtschaftspolitische Ordnungskonzeption bezeichnet der Begriff Marktwirtschaft ein Programm, das darüber Auskunft gibt, wie die in einer Volkswirtschaft bestehenden Probleme gelöst werden sollten und mit welchen Argumenten die empfohlene Lösung als zweckmäßig begründet wird.
2. Selektionsproblem
Ein erstes dieser Probleme lässt sich als Selektionsproblem bezeichnen. Es besteht in der Entscheidung darüber, zur Erzeugung welcher Güter die der Volkswirtschaft verfügbaren Produktionsfaktoren verwendet werden sollen. Zu bestimmen ist die gewünschte Zusammensetzung des gesamtwirtschaftlichen Angebots an Gütern und Diensten.
Die marktwirtschaftliche Lösung des Selektionsproblems besteht in der Empfehlung einer Steuerung der Produktion durch die Kaufentscheide der privaten Haushalte. Die privaten Haushalte sollen das für den Konsum verfügbare Einkommen gemäß den Bedürfnissen ihrer Mitglieder verausgaben. Auf den Konsumgütermärkten soll sich die Chance eröffnen, zwischen miteinander konkurrierenden Angeboten zu wählen. Dabei soll die Nachfrage das Angebot in dem Sinne steuern, dass die Käufe der Haushalte darüber entscheiden, bei welchen Gütern die Produktion aufgrund entsprechend wachsender Nachfrage ausgedehnt, bei welchen sie aufgrund schrumpfender Nachfrage eingeschränkt und bei welchen sie aufgrund ausbleibender Nachfrage eingestellt werden soll. Ein wirksamer Wettbewerb soll die Unternehmer zur Bereitstellung eines Angebots anhalten, welches in dem Sinne marktgerecht ist, dass es den Wünschen der Verbraucher zu jedem Zeitpunkt möglichst weitgehend entspricht. Eine Steuerung der Produktion gemäß der Kaufentscheide der Verbraucher erscheint den Befürwortern einer marktwirtschaftlichen Ordnung als »optimale« Lösung des Selektionsproblems, weil sie annehmen, dass jeder für sich am besten weiß, welche Verwendung seines Einkommens ihm die größtmögliche Bedürfnisbefriedigung sichert. Konsumfreiheit und ein unbeschränkter Leistungswettbewerb gelten somit als beste Gewähr dafür, dass das Ziel einer möglichst guten Versorgung der Bevölkerung mit Gütern und Diensten nicht verfehlt wird.
Das für die Bundesrepublik Deutschland als verbindlich angesehene Programm der »Sozialen Marktwirtschaft« zielt allerdings nicht darauf ab, den zuvor skizzierten Idealtypus einer »reinen« Marktwirtschaft zu verwirklichen. Im Rahmen der »Sozialen Marktwirtschaft« gilt es vielmehr als durchaus »ordnungskonform«, dass die Lösung des Selektionsproblems nicht allein den Entscheidungen der Privaten obliegt. Der Staat gilt als grundsätzlich befugt, den Konsum bestimmter Güter zu untersagen oder zu beschränken. Auch kann er den Konsum bestimmter Güter fördern sowie selbst Güter und Leistungen bereitstellen und über die dazu erforderlichen Produktionsmittel verfügen. Er darf dabei die Grundsätze und Spielregeln einer (dominierend) marktwirtschaftlichen Ordnung jedoch nicht außer Kraft setzen, wenn sein handeln »ordnungskonform« bleiben soll: Die »individualistische Norm«, die der marktwirtschaftlichen Ordnung zugrunde liegt, darf zwar als Ausnahme von der marktwirtschaftlichen Regel korrigiert und ergänzt, nicht aber aufgehoben, also durch »kollektive Normen« ersetzt werden.
Der Staat kann den Konsum bestimmter Güter untersagen oder beschränken, wenn der Nutzen, den sich die Individuen von diesen Gütern versprechen, wegen mangelnder Qualitätskenntnis und unvollkommener Berücksichtigung unerwünschter interner Nebenwirkungen sich nicht mit dem »wahren« Nutzen deckt (z.B.: gefährliche Medikamente, gesundheitsschädliche Chemikalien). Der Staat kann den Konsum bestimmter Güter untersagen oder beschränken, weil der gesellschaftliche Nutzen des Konsums dieser Güter geringer ist als ihr privater Nutzen, da unerwünschte externe Nebenwirkungen auftreten (z.B. verkehrsgefährdende Wirkung des Alkoholkonsums). Der Staat kann den Konsum bestimmter Güter fördern, wenn ihr gesellschaftlicher Nutzen höher ist als der private Nutzen (z.B. Schutzimpfung, Verschönerung von Häuserfassaden). Der Staat kann schließlich solche Güter und Leistungen bereitstellen, die von den Individuen zwar positiv bewertet werden, in einer »reinen« Marktwirtschaft jedoch dennoch nicht angeboten werden würden, weil ihr Angebot eine Gewinnerzielung nicht zulässt (sog. öffentliche Güter oder Kollektivgüter wie etwa Straßenbeleuchtung, Landesverteidigung, Rechtssicherheit).
3. Allokationsproblem
Ist die Entscheidung über das zu realisierende Produktionsprogramm getroffen, dann stellt sich das Allokationsproblem. Es besteht in der Entscheidung darüber, welche Produktionsverfahren bei der Erzeugung der gewünschten Güter angewendet werden sollen.
Die marktwirtschaftliche Lösung des Allokationsproblems besteht in dem Gebot, von mehreren zur Wahl stehenden Produktionsverfahren grundsätzlich das kostengünstigste einzusetzen. Ein wirksamer Wettbewerb soll die Unternehmen dazu anhalten, so kostengünstig wie möglich zu produzieren. Unternehmen, die dieser Forderung nicht genügen, sollen kurzfristig mit Gewinneinbußen und Verlusten bestraft und langfristig zum Ausscheiden aus dem Markt gezwungen werden.
Kostengünstigste Produktion wird angestrebt, weil nur sie die größtmögliche Ergiebigkeit des Faktoreinsatzes und damit höchstmögliche Produktivität gewährleistet. Eine Verschwendung knapper Produktivkräfte soll vermieden und dadurch das bei gegebener Faktorausstattung und gegebenem Stand des technisch-organisatorischen Wissens größtmögliche Bruttosozialprodukt realisiert werden.
In der »Sozialen Marktwirtschaft« erfolgt die Organisation des Produktionsprozesses grundsätzlich und in der Regel durch die rentabilitätsorientierten Entscheidungen privater Unternehmer und Manager. Bei ihrem Streben nach höchstmöglicher Rentabilität haben diese jedoch jene Rahmenbedingungen zu beachten, die ihnen durch staatliche Vorschriften und Auflagen vorgegeben werden: gesetzliche Regelungen der Arbeitszeit, Sicherheitsbestimmungen, Verbot der Kinderarbeit, baupolizeiliche Vorschriften, Bestimmungen des Mutterschutzes, Auflagen einer Politik des Umweltschutzes, Vorschriften des Betriebsverfassungsgesetzes u.a.m. Der damit gegebene Einfluss des Staates auf die Lösung des Allokationsproblems gilt so lange als »ordnungskonform«, wie das Gebot kostengünstigster Produktion und der Grundsatz der unternehmerischen Entscheidungsfreiheit dadurch in ihrer Gültigkeit zwar eingeschränkt, nicht aber außer Kraft gesetzt werden.
Die Notwendigkeit staatlicher Mitwirkung bei der Lösung des Allokationsproblems wird mit der Möglichkeit von Konflikten begründet, die zwischen der Forderung nach kostengünstigster Produktion und den Zielen der sozialen Gerechtigkeit, des sozialen Friedens und des sozialen Fortschritts bestehen können. Staatliche Gesetzgebung im Bereich der Betriebs- und Unternehmensverfassung zielt darauf ab, ein geordnetes Austragen dieser Konflikte und eine ausgewogene Beachtung aller berechtigten Interessen zu gewährleisten.
4. Verteilungsproblem
Wie soll das verfügbare Sozialprodukt verteilt werden? Diese Frage bezeichnet das Verteilungsproblem, das somit in der Entscheidung darüber besteht, welcher Anspruch auf das verfügbare Güterangebot den einzelnen Mitgliedern und Gruppen der Gesellschaft zuerkannt werden soll.
Die marktwirtschaftliche Lösung des Verteilungsproblems besteht in der Empfehlung, jedem das Einkommen zuzuerkennen, das er als Preis der von ihm angebotenen Faktorleistung am Markt erzielt. Ein freier Leistungswettbewerb soll gewährleisten, dass die sich am Markt ergebende Einkommensverteilung leistungsgerecht oder doch zumindest knappheitsgerecht ist.
Eine leistungsbezogene Einkommensverteilung gilt unter den Befürwortern einer marktwirtschaftlichen Ordnung als wünschenswert, weil man glaubt, dass sie zur Leistung anreizt und dadurch die Effizienz und Dynamik des Systems fördert.
In einer »Sozialen Marktwirtschaft« nimmt der Staat auf die durch den Markt vorgegebene Einkommensverteilung auf vielfältige Weise korrigierend Einfluss, so etwa durch differenzierte Besteuerung, durch Gewährung von Freibeträgen sowie von Kinder- und Wohngeld, durch Zahlung von Subventionen, Stipendien und Beihilfen, durch Förderung der Vermögensbildung u.a.m.
In der »Sozialen Marktwirtschaft« ist die Höhe des Einkommens nicht immer Ergebnis einer freien Preisbildung auf den Faktormärkten. Sie ist vielmehr häufig das Resultat von Verhandlungen der Repräsentanten von organisierten Gruppen von Anbietern (Gewerkschaften) und Nachfragern (Arbeitgeberverbände).
Die Zulässigkeit staatlicher Korrekturen des marktwirtschaftlichen Verteilungsergebnisses wird damit begründet, dass die auf den Faktormärkten erzielten Einkommen aufgrund des Bestehens von Marktmacht nicht immer leistungsgerecht bemessen seien; auch bleibe bei einer ausschließlich leistungsbezogenen Einkommensverteilung das Ziel »soziale Gerechtigkeit« unberücksichtigt. Schließlich sei denkbar, dass die Vorstellungen der Gesellschaft von einer »gerechten Einkommensverteilung« mit dem Ergebnis einer allein nach der Marktleistung erfolgenden Verteilung nicht übereinstimmen.
Das Bestehen von Gewerkschaften und das Aushandeln der (Tarif-)Löhne durch die Tarifvertragsparteien gelten in der »Sozialen Marktwirtschaft« als zulässig, weil angenommen wird, dass die Anbieter von Arbeitskraft gegenüber den Nachfragern nach Arbeitsleistung auf dem Arbeitsmarkt grundsätzlich und in der Regel über die schwächere Marktstellung verfügen und somit Gefahr laufen, »ausgebeutet« zu werden. Ihr Zusammenschluss zu Gewerkschaften wird als geeignetes und zulässiges Mittel angesehen, um das vermutete »Machtungleichgewicht« auf dem Arbeitsmarkt zu beseitigen.
5. Stabilitätsproblem
Das Stabilitätsproblem besteht zum einen in der Aufgabe, die hinreichende Nutzung der verfügbaren Produktionsmöglichkeiten zu sichern, also zu jedem Zeitpunkt einen hohen Auslastungsgrad des gesamtwirtschaftlichen Produktionspotenzials zu gewährleisten. Es beschreibt zum anderen die Notwendigkeit, die (weitgehende) Stabilität des Preisniveaus zu bewahren und damit das Ziel eines (annähernd) gleich bleibenden Geldwertes zu verwirklichen.
Die Verantwortung für das Ziel »Geldwertstabilität« liegt in der Bundesrepublik Deutschland vornehmlich bei der Bundesbank, die durch das Bundesbankgesetz verpflichtet ist, die Stabilität der Währung zu sichern. Dazu ist eine Geldpolitik erforderlich, die die Geldmenge so steuert, dass sich ihre Ausweitung am zu erwartenden Zuwachs des gesamtwirtschaftlichen Produktionspotenzials orientiert.
Die Verantwortung für das Ziel eines hohen Beschäftigungsstandes trägt vornehmlich die Lohnpolitik. Um Unterbeschäftigung zu vermeiden, ist eine Orientierung der Lohnerhöhungen am Zuwachs der gesamtwirtschaftlichen Arbeitsproduktivität erforderlich: Geboten ist eine kostenniveauneutrale Lohnpolitik.
Kommt es zu gravierenden gesamtwirtschaftlichen Ungleichgewichten, ist staatliche Stabilisierungspolitik geboten, die auf Rückgewinnung eines gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts abzielt.
Dazu kann das Instrumentarium des »Gesetzes zur Förderung der Stabilität und des Wachstums der Wirtschaft« vom 8. Juni 1967 eingesetzt werden. Das »Stabilitätsgesetz« erlaubt eine direkte Einflussnahme auf das Niveau der Ausgaben des Staates für Güter und Dienste, und es gestattet eine indirekte Einflussnahme auf das Niveau der privaten Nachfragekomponenten, also den privaten Konsum, die private Investitionsgüternachfrage und den Außenbeitrag als Differenz zwischen Export und Import.
Eine Marktwirtschaft ist durch die Fähigkeit gekennzeichnet, Ungleichgewichte durch Anpassungsprozesse zu beseitigen. Stabilisierungspolitik kann diese Prozesse fördern und beschleunigen und damit die volkswirtschaftlichen Kosten vermindern, die mit dem Bestehen von Ungleichgewichten verbunden sind.
Ordnungskonform betriebene Stabilisierungspolitik hat dabei die konstituierenden Prinzipien einer Marktwirtschaft zu respektieren. Sie darf somit weder den Grundsatz der individuellen Dispositionsfreiheit noch den der freien Preisbildung verletzen; sie hat sich folglich auf indirekt wirkende »Makrosteuerung« zu beschränken.
6. Planungs- und Koordinierungsproblem
Wer soll befugt sein, welche wirtschaftlichen Entscheidungen zu treffen? Wie lässt sich gewährleisten, dass die Summe dieser Entscheidungen zu einem möglichst störungsfreien Ablauf des Wirtschaftsprozesses und einer möglichst guten Versorgung der Bevölkerung führt? Diese Fragen bezeichnen das Planungs- und Koordinierungsproblem, das in jeder Wirtschaftsordnung gelöst werden muss. Denn Wirtschaften ist zielgerichtetes Handeln, ist »Planung« im Sinne einer Zuweisung knapper Mittel auf miteinander konkurrierende Zwecke.
Die »wirtschaftspolitische Grundentscheidung«, mit der eine Gesellschaft die von ihr anzustrebende Wirtschaftsordnung wählt, ist deshalb zugleich auch eine Entscheidung darüber, wer »Planträger« sein soll, wem also welche Entscheidungsbefugnisse zuzuerkennen sind; und sie ist eine Entscheidung darüber, welcher Mittel und Verfahren man sich bedienen will, um die einzelnen wirtschaftlichen Entscheidungen aufeinander abzustimmen, die Vielzahl von Teilplänen zu koordinieren.
Die marktwirtschaftliche Ordnung ist ein System grundsätzlich dezentraler Planung. Das besagt: In der Regel soll nicht eine zentrale Planungsinstanz bestimmen, was, wie und für wen produziert werden soll. Jedes Unternehmen und jeder Haushalt ist vielmehr eigenständiger Planträger, der seine Wirtschaftspläne in eigener Verantwortung und auf eigenes Risiko aufstellt und zu verwirklichen sucht. Der Wirtschaftsplan des einzelnen Haushalts besteht dabei in der Entscheidung darüber, wie er sein Einkommen zu beschaffen und zu verwenden gedenkt. Der Wirtschaftsplan der einzelnen Unternehmung umfasst alle Entscheidungen, die im Rahmen von Beschaffung, Produktion, Absatz und Finanzierung zu treffen sind.
Die notwendige Abstimmung dieser einzelnen Wirtschaftspläne erfolgt auf Märkten durch »Probieren und Korrigieren« im Sinne eines Sich-Herantastens an die »richtigen« Mengen, Preise und Qualitäten – ein Verfahren, das gelegentlich als expost-Koordination, als Planbestimmung »im nachhinein« bezeichnet wird. Denn erst am Markt entscheidet sich, wie weit die einzelnen Anbieter und Nachfrager ihre Ziele verwirklichen können. Die Attraktivität des marktwirtschaftlichen Verfahrens der Planaufstellung und Planabstimmung ergibt sich für die Anhänger der marktwirtschaftlichen Lösung aus der Überzeugung, dass diese gegenüber der zentralverwaltungswirtschaftlichen Alternative die Vorzüge größerer Flexibilität und geringerer Irrtumswahrscheinlichkeit aufweist. Größere Marktnähe und die daraus resultierende bessere Marktkenntnis verleihen – so die Vermutung – der einzelnen Unternehmung eine gegenüber zentraler Planung überlegene Fähigkeit, Änderungen der Marktdaten frühzeitig zu erkennen und sich ihnen rasch anzupassen.
Wirtschaftliche Entscheidungen sind vielfach zukunftsgerichtete und damit unter Unsicherheit zu treffende Entscheidungen. Ihre Verteilung auf eine Vielzahl von Unternehmen und Haushalten vermindert die Gefahr, dass (unvermeidbare) Prognoseirrtümer zu Fehlentscheidungen und damit zu einer Fehllenkung knapper Produktivkräfte führen: Besteht doch bei dezentraler Planung die Chance, dass einzelne Fehlentscheidungen, die ja nicht alle in dieselbe Richtung zielen, einander aufheben und sich damit gegenseitig korrigieren.
In der »Sozialen Marktwirtschaft« obliegt dem Staat die Versorgung der Bevölkerung mit Kollektivgütern (öffentliche Grundleistungen, Infrastruktur). Die für sinnvoll erachtete zentrale (staatliche) Planung dieses Teiles der gesamtwirtschaftlichen Produktion erfolgt durch eine staatliche Verwaltung (Bürokratie), die in einer parlamentarischen Demokratie durch gewählte Repräsentanten (z.B. Minister) angewiesen und kontrolliert werden soll.
Die Entscheidung, die Bereitstellung bestimmter Güter und Leistungen nicht dezentral durch private Unternehmen, sondern (als Ausnahme von der marktwirtschaftlichen Regel) durch den Staat zentral planen zu lassen, kann dabei wie folgt begründet werden:
Denkbar ist, dass die Bereitstellung gewünschter Güter und Leistungen privaten Unternehmen keine (ausreichende) Chance zur Gewinnerzielung eröffnet. Bei (ausschließlichem) Vertrauen auf private unternehmerische Initiative würde hier kein (oder doch kein ausreichendes) Angebot zustande kommen, sodass staatliches Tätigwerden erforderlich wird, um eine ausreichende Versorgung zu gewährleisten (Museen, Opernhäuser, Symphonie-Orchester, Denkmalschutz, Umweltschutz, öffentliche Sicherheit).
Denkbar ist auch, dass »Besonderheiten« (der Produktion) bestimmter Güter einen freien Leistungswettbewerb zwischen einer Vielzahl von Anbietern ausschließen oder nicht sinnvoll erscheinen lassen (natürliche Monopole). Das Bereitstellen solcher Güter und Leistungen durch staatliche (oder staatlich kontrollierte) Betriebe soll verhindern, dass Monopolstellungen genutzt werden, um die Marktgegenseite durch überhöhte Preise u.Ä. »auszubeuten« (Post, Elektrizitätswirtschaft, früher auch Eisenbahn).
7. Anreiz- und Kontrollproblem
Auch für die »reichen« Volkswirtschaften der hoch entwickelten Industrieländer gilt die Vermutung, dass es noch »echte« individuelle Bedürfnisse und »sinnvollen« gesellschaftlichen Bedarf gibt, zu deren Befriedigung und zu dessen Deckung das verfügbare Sozialprodukt auch bei voller Nutzung der vorhandenen Kapazitäten nicht ausreicht. Wirtschaftliches Wachstum bleibt somit auch für diese Volkswirtschaften ein sinnvolles Ziel. Wesentliche Ursachen dieses Wirtschaftswachstums sind Produktivitätsfortschritte durch Prozessinnovationen und das Erschließen neuer Märkte durch Produktinnovationen. Ein Wirtschaftssystem, das, gemessen am Wachstumsziel, leistungsfähig sein will, muss genügend Anreize zur Einführung derartiger Neuerungen bieten. Das Gewährleisten ausreichender Leistungsanreize ist eine Aufgabe, die den Inhalt des Anreizproblems bezeichnet.
Wie kann sichergestellt werden, dass die am Wirtschaftsprozess Beteiligten nicht gegen die Interessen der Gesellschaft verstoßen, sondern in gesamtwirtschaftlich erwünschter Weise tätig werden? Im Rahmen der Lösung des Kontrollproblems ist auf diese Frage eine möglichst befriedigende Antwort zu geben. Denn ein Wirtschaftssystem, das in seinen Merkmalen und Funktionsprinzipien nicht gegen die sittlichen Grundwerte einer »Freiheit« und »Gerechtigkeit« anstrebenden Gesellschaft verstoßen will, muss Vorkehrungen enthalten, die das Entstehen von wirtschaftlicher Macht verhindern oder doch zumindest bestehende Marktmacht wirksam begrenzen und kontrollieren.
Wichtigstes Anreiz- und Kontrollsystem einer marktwirtschaftlichen Ordnung ist ein freier Leistungswettbewerb. Er soll die Unternehmen zum Bereitstellen eines marktgerechten Angebots, zur flexiblen Anpassung an sich ändernde Marktdaten, zur kostengünstigen Produktion und zur raschen Durchsetzung des »technischen Fortschritts« anhalten. Unternehmen, denen es besser als ihren Konkurrenten gelingt, diese ihnen von der Gesellschaft aufgetragenen Arbeiten zu erfüllen, werden dafür mit (höheren) Gewinnen und (rascherem) Wachstum belohnt. Unternehmen, die nicht kostengünstig oder nicht genügend marktgerecht produzieren, sollen für dieses Versagen bei der Erfüllung ihres gesellschaftlichen Auftrags mit Verlusten oder gar mit Konkurs bestraft werden. Ein wirksamer Wettbewerb gewährleistet zudem einen ausreichend kräftigen Druck auf Preise und Gewinne, um eine »Ausbeutung« der Marktgegenseite zu verhindern.
Ein freier Leistungswettbewerb gilt den Befürwortern einer marktwirtschaftlichen Ordnung deshalb als wirksames und attraktives Anreizsystem, weil er sich das Bestreben des Einzelnen zunutze macht, sein Einkommen zu steigern und Einkommenseinbußen zu vermeiden, also von der wohl zutreffenden Annahme ausgeht, dass der Einzelne in der Regel vor allem seine eigenen Interessen verfolgt und seine eigenen Ziele zu verwirklichen sucht.
Als Instrument zur Begrenzung und Kontrolle wirtschaftlicher Macht wird ein freier Leistungswettbewerb befürwortet, weil er die ihm aufgetragene Kontrollfunktion wahrzunehmen vermag, ohne dass dazu der Einsatz staatlicher Hoheitsgewalt erforderlich ist, die ja ihrerseits wieder Macht darstellt und folglich zu kontrollieren wäre.
II. Wettbewerb als »Prozess der schöpferischen Zerstörung« und als »Suchprozess und Entdeckungsverfahren«
Marktwirtschaftlicher Wettbewerb als gesellschaftliche Einrichtung zur Erzeugung kontinuierlich und hinreichend wirksam werdender Anreize und Zwänge zu gesamtwirtschaftlich erwünschtem Handeln vollzieht sich als ein Prozess, der durch das Handeln eines Unternehmens in Gang gesetzt wird, das den Status quo der gegebenen Wettbewerbssituation als unbefriedigend erachtet und ihn deshalb zu seinen Gunsten zu verändern sucht.
Welche Aktionsparameter das in diesem Sinne aktiv werdende Unternehmen einsetzt, um die gewünschte zusätzliche Nachfrage zu erlangen, bestimmt sich dabei durch die speziellen Gegebenheiten seines Marktes, durch die jeweils gegebene Situation, durch seine objektiven Möglichkeiten und durch die subjektiven Präferenzen derer, die über die zu wählende Strategie zu befinden haben: Es kann der Preis gesenkt, die Qualität verbessert, die Werbung verstärkt, die Absatzmethode verändert, der Service vervollkommnet werden. Zum »Pionier-Unternehmer« (Schumpeter, J. A. 1950) wird ein Anbieter, dessen Aktivität nicht lediglich eine marginal verbesserte Leistung zur Folge hat, sondern zu Innovationen führt, die erhebliche Kostenersparnisse ermöglichen, oder neue Produkte hervorbringt, die dem bislang Angebotenen deutlich überlegen sind.
Als Konsequenz eines erfolgreichen Wettbewerbsverstoßes sehen sich die Konkurrenten des aktiv gewordenen Unternehmens in ihrer Wettbewerbsposition bedroht. Je größer die Absatzeinbußen sind, die sie hinnehmen müssen, desto stärker ist der für sie bestehende Zwang zu reagieren. Je erfolgreicher das vorstoßende Unternehmen, desto ausgeprägter wird bei anderen Unternehmern der Branche das Bestreben sein, das Beispiel des Pioniers nachzuahmen, um ebenfalls in den Genuss zusätzlicher Gewinne und vermehrter Umsätze zu gelangen.
Die Furcht, bei Passivität im Wettbewerb zurückzufallen, oder die Hoffnung, an den Erfolgen des Pioniers teilzuhaben, lösen somit eine Phase der Nachahmung (Imitationsphase) aus, die bei modellgerechtem Verlauf darin ihr Ende findet, dass der Wettbewerbsvorsprung, den der Herausforderer zunächst erlangt hatte, aufgeholt wird und damit verloren geht. Alle erbringen nun die bessere Leistung, die zunächst nur vom Pionier angeboten worden war. Dieser hat seine zeitlich befristete Monopolstellung und damit auch die Möglichkeit, Vorsprungsgewinne zu erzielen, eingebüßt. Der Wettbewerbsprozess hat zu einer verbesserten Marktversorgung geführt, zu einem neuen Gleichgewichtszustand auf dem höheren Niveau einer besseren Leistung. Er hat damit vorerst sein Ende gefunden und muss aufs Neue durch einen Wettbewerbsvorstoß in Gang gesetzt werden, wenn nicht bereits in der Imitationsphase dadurch eine neue Sequenz von Aktion und Reaktion vorbereitet wurde, dass einer der Verfolger sich anschickte, seine Konkurrenten zu überflügeln und dadurch die Rolle des neuen Pioniers zu übernehmen.
Wettbewerb im skizzierten Sinne kann als »Prozess der schöpferischen Zerstörung« (Schumpeter, J. A. 1950) angesehen und als »Suchprozess und Entdeckungsverfahren« (Hayek, F.A. v. 1969) gedeutet werden. Überkommene Verfahren, Produkte, Absatzmethoden, Finanzierungstechniken und Marketing-Konzeptionen werden durch entsprechende Innovationen infrage gestellt und, sofern diesen Erfolg beschieden ist, überwunden und verdrängt. Auch die zunächst gegebene Marktstruktur wird durch den Ablauf des Wettbewerbsgeschehens verändert: Marktanteile verschieben sich, Unternehmen schließen sich zusammen, andere scheiden aus dem Markt aus, wieder andere werden neu gegründet oder vollziehen als »newcomer« den Eintritt in einen bis dahin von ihnen nicht bedienten Markt. Nicht konstant bleiben im Wettbewerbsprozess die unternehmerischen Verhaltensweisen; auch wandelt sich das angebotene Sortiment in Art, Umfang und Qualität.
Als »Suchprozess und Entdeckungsverfahren« lässt sich der Wettbewerbsprozess interpretieren, weil das Bestreben der Unternehmer, bislang unerkannte Marktchancen zu erkunden und zu nutzen, sie neue Möglichkeiten der Faktorkombination erproben und neue Produkte zur Wahl stellen lässt – Aktivitäten, die ohne das Bestehen von Wettbewerb unterblieben wären. Auch vollziehen sich auf den Märkten bei Anbietern und Nachfragern, die sich hier zur Abstimmung ihrer Dispositionen zusammenfinden, Lernprozesse: Die Verbraucher gewinnen zumeist erst dann Klarheit über ihre Bedürfnisse und Präferenzen, wenn sie jener Alternativen ansichtig werden, die ihnen die Produzenten offerieren; und diese erlangen fortlaufend Einsichten über das, was offensichtlich gewünscht wird, da es zu kostendeckenden Preisen Absatz findet, und über das, was sich als nicht bedarfsgerecht erweist, da es unabsetzbar bleibt.
Als Regelsystem mit negativer Rückkoppelung fordert die marktwirtschaftliche Ordnung, dass die am Markt gewonnenen Erfahrungen Anlass sind, die zunächst gültigen Wirtschaftspläne so lange zu korrigieren, bis der Anlass dazu entfällt, da die Dispositionen der Anbieter und Nachfrager bestmöglich aufeinander abgestimmt sind. Zur Anreizfunktion des Wettbewerbs tritt damit seine Koordinierungsfunktion: die Aufgabe, die Marktteilnehmer über das Ausmaß zu informieren, in dem sie ihre Absichten verwirklichen können, und sie so lange zur Revision ihrer Strategien und Dispositionen anzuhalten, bis jeder den für ihn höchstmöglichen Realisierungsgrad seiner Ziele erreicht hat.
Literatur:
Eucken, W. : Die Grundlagen der Nationalökonomie, Berlin 1940
Eucken, W. : Grundsätze der Wirtschaftspolitik, Tübingen 1952
Hayek, F.A. v. : Freiburger Studien, Tübingen 1969
Schumpeter, J. A. : Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie, Bern 1950
Thieme, H. J. : Wirtschaftssysteme, in: Vahlens Kompendium der Wirtschaftstheorie und Wirtschaftspolitik, Bd. 1, hrsg. v. Bender, D. et al., 5. A., München 1993, S. 1 – 48
Thieme, H. J. : Soziale Marktwirtschaft, 2. A., München 1994
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