Handelsfunktionen
Die Lehre von den Handelsfunktionen wurde zu Beginn dieses Jahrhunderts entwickelt; v. a. um den jahrhundertealten Vorwurf der „Unproduktivität“ des Handels zu entkräften. Man versucht, die Leistungen des Handels als Wahrnehmung gesamtwirtschaftlich notwendiger Funktionen im Prozeß der Güterverteilung darzustellen: Einzelne Funktionen werden inhaltlich abgegrenzt und zu Katalogen von Handelsfunktionen zusammengefaßt. Gleichzeitig wird das Ziel verfolgt, für einzelne Produkte die Funktionenerfüllung bei indirektem Absatz durch Zuordnung von anfallenden Kosten und bewirkten Wertsteigerungen meßbar zu machen. Mit diesen Größen soll die Handelsspanne und v.a. deren produktspezifisch unterschiedliche Höhe mittels ökonomischer Fundierung gerechtfertigt werden. Für wissenschaftliche und praktische Zwecke läßt sich die Lehre von den Handelsfunktionen nutzen, wenn man sich von den eingangs skizzierten historischen Fragestellungen löst und Handelsfunktionen zur Erklärung gesamtwirtschaftlicher Distributionsprozesse sowie zur Fundierung des Beschaffungs- und Absatzmarketing von Handelsbetrieben heranzieht.
Basis bildetdergesamtwirtschaftlicheDistri- butionsprozeß, der aus einem Real- und Nominalgüterstrom sowie einer Vielzahl von Kommunikationsbeziehungen besteht (vgl. Abb. 1). Hier wird - gegenüber der klassischen Funktionentheorie - eine Erweiterung der Funktionen und der Untersuchungsobjekte vorgenommen: Analysiert wird die Funktionenübernahme aller am Distributionsprozeß beteiligten Institutionen zur Abwicklung des Güter- und Geldkreislaufes sowie deren Einschaltung in die Kommunikationsprozesse. Handelsbetriebe erbringen dabei vornehmlich immaterielle Leistungen, die darauf gerichtet sind, fremderstellte Sachleistungen mit eigenerstellten Dienstleistungen zu kombinieren und diese gegen Entgelt anzubieten. Handelsbetriebe gewinnen und speichern dabei eine Vielzahl von Daten, die sie teilweise für eigene Zwecke nutzen, teilweise ihren Marktpartnern - manchmal gegen ein gesondertes Entgelt - anbieten.
1. Gesamtwirtschaftliche Interpretation des Begriffs Handelsfunktionen In einer arbeitsteiligen Wirtschaftsordnung laufen Produktions-, Verbrauchs- und Verwertungsprozesse von Waren aus naturbedingten technologischen, sozialen und ökonomischen Gründen nach unterschiedlichen Gesetzmäßigkeiten ab. Ebenso vielgestaltig ist der Ablauf von Geldprozessen, sei es als Entgelt für erworbene Waren bzw. Rechte oder in Anspruch genommene Dienstleistungen, sei es der Einzug von Steuern oder Gebühren, letztere etwa für die Abfallverwertung. Bei der Abwicklung dieser Real- und Nominalgüterprozesse fallen Daten an, die als Informationen zur Steuerung des gesamtwirtschaftlichen Distributionsprozesses dienen. Zwischen Produktion-Verbrauch-Verwertung bestehen räumliche, zeitliche, quantitative und qualitative Spannungen, die sich auf alle drei Elemente der Distributionswirtschaft beziehen: Die Han- delsob j ekte (W aren, Dienstleistungen, Rechte sowie Abfall), die Entgeltobjekte (Zahlungsmittel sowie Zahlungsansprüche und -Verbindlichkeiten, Steuern, Gebühren) sowie die Daten/Informationen.
Der Ausgleich dieser Spannungen ist Aufgabe der gesamtwirtschaftlichen Distribution (Absatzwirtschaft). Umschrieben wird sie mit der sog. Urfunktion der Distributionswirtschaft, der in jeder Wirtschaft zu erfüllenden Ausrichtungs- oder Umgruppierungsfunktion (vgl. Abb. 1). Der Spannungsausgleich wird bewirkt, indem einerseits das oft nach produktionstechnischen Gesichtspunkten konzipierte Produktangebot bedarfs- und verwertungsgerechter und andererseits die nach Situationen, Personen bzw. Institutionen höchst differenzierte Nachfrage produktions-, distributions- und ebenso verwertungsgerechter aus gerichtet wird. Anschaulicher werden die zum Spannungsausgleich möglichen Maßnahmen durch eine Systematisierung der gesamtwirtschaftlichen Distributionsfunktionen, die sich aus einer Gegenüberstellung der Dimensionen der Spannungen und der Elemente der Distributionswirtschaft in Form einer Matrix ergeben (vgl. Abb. 2). Handelsfunktionen in gesamtwirtschaftlicher Interpretation, hier als Distributionsfunktionen bezeichnet, werden in einer arbeitsteiligen Wirtschaft ganz oder teilweise von allen Beteiligten übernommen: den Erzeugern bzw. Produzenten, den V erwendern bzw. Verbrauchern, den Verwertern - das sind alle Unternehmen der Abfallwirtschaft einschließlich staatlicher, kommunaler Stellen - sowie schließlich sämtlichen Organisationen der Absatzwirtschaft, z. B. Groß- und Einzelhandelsbetrieben, Im- und Exporteuren, Lagerhaltern, Spediteuren, Reedern etc. Sie alle betreiben in einer arbeitsteiligen Wirtschaft „Handel im funktioneilen Sinn“. Wer welche Funktionen und mit welcher Intensität übernimmt, ist aus marktwirtschaft- lieh ökonomischer Sicht Ergebnis eines gesamtwirtschaftlichen Ökonomisierungsprozesses, d. h. derjenige wird langfristig einzelne Aufgaben übernehmen, der die höchste Ausrichtungsleistung zu den geringstmöglichen Kosten zu erbringen vermag. Die dadurch bewirkte Ökonomisierung der Distribution ist eine zentrale Voraussetzungfür die optimale Versorgung einer Volkswirtschaft mit Gütern und Dienstleistungen. Außerdem sichert ein leistungsfähiges Distributionssystem die internationale Wettbewerbsfähigkeit. Vom Prinzip gesamtwirtschaftlicher Ökonomisierung abweichende Funktionsaufteilungen können dann auftreten, wenn z.B. marktmächtige Glieder der Distributionskette kostenintensive Funktionen auf schwächere Marktpartner abwälzen oder aufgrund ordnungspolitischer Vorstellungen die Wahrnehmung einzelner Funktionen bestimmten (oft staatlichen) Organen zugewiesen wird bzw. Vorbehalten bleibt. Dass diese Ausrichtungsfunktion über den rein physischen Warentransport weit hinausgeht, illustrieren die derzeit erneut aktuellen Überlegungen über „Just-in-time“-Lieferung oder die Bemühungen, den Konsumenten (aber auch den Produzenten, z.B. von Verpackungen) Teil-Funktionen aus dem Prozeß der Abfallverwertung zu übertragen (Duales System) sowie die geplante Einführung von „electronic cash“.
1. Einzelwirtschaftliche Interpretation des Begriffs Handelsfunktionen Bei dieser Sichtweise geht es um die Abgrenzung derjenigen Funktionen, die Handelsbetriebe (d. h. Unternehmen, die ausschließlich oder überwiegend Handel im funktioneilen Sinn betreiben) im gesamtwirtschaftlichen Distributionsprozeß übernehmen. Handels- funktionenkataloge i.d.S. sind demgemäß Zusammenstellungen von einzelbetrieblichen Beschaffungs- und Absatzaufgaben. Derartige Funktionenschemata wurden u. a. vorgetragen von Oberparieiter, Hellauer, Seyffert, Buddeberg, Hoppmann, Marré, Sundhoff, Behrens, Meyer, Kern, Kuhl- meier und Hansen. Handelsbetriebe in Marktwirtschaften sind Institutionen, die aus der Vielfalt gesamtwirtschaftlicher Distributionsfunktionen diejenigen auswählen, die eine höchstmögliche Erfüllung der jeweiligen einzelbetrieblichen Zielsetzungen versprechen. Gemäß divergierender Zielsetzungen unterscheiden sich die Handelsbetriebe in der quantitativen sowie qualitativen Funktionenkombination und der Intensität der Funktionenwahrnehmung. Darauf beruht die in der Realität anzutreffende Vielfalt von Betriebsformen des Handels, und dieser Befund erklärt die permanenten, höchst dynamischen Wandlungs- prozesse im Handel (Dynamik der Betriebsformen). Die einzelwirtschaftlichen Funktionenkataloge können als theoretische Basis für eine Systematisierung der Instrumente des Handclsmarketing herangezogen werden. Diese werden als gedankliche Zusammenfassungen von Aktionsbereichen des Handelsmanagement aufgefaßt, innerhalb derer Entscheidungen zur Gestaltung der Absatz- und Beschaffungsmärkte getroffen werden. Mit den Entscheidungen des Beschaffungs- und Absatzmarketing streben einzelne Handelsbetriebe primär die Erfüllung der von ihnen autonom gesetzten Unternehmensziele an. Gleichzeitig erfüllt ein Handelsbetrieb mit diesen Entscheidungen auch seine von ihm übernommene Ausrichtungsfunktion im gesamtwirtschaftlichen Distributionsprozeß; er übt somit I landelsfunktioncn in der gesamtwirtschaftlichen Interpretation aus. In Marktwirtschaften wird angenommen, dass die einzelwirtschaftliche Funktionswahrnehmung im Rahmen des Beschaffungs- und Absatzmarketing dann zu einer optimalen Versorgung der Bevölkerung führt, wenn unter den Unternehmen des institutionellen und funktionellen Handels ausreichender Wettbewerb besteht. In Zentralverwaltungswirtschaften ist die Funktionenübernahme durch Handelsbetriebe anders geregelt: Mangels einzelbetrieblicher Zielsetzungen werden Handelsbetrieben als Gliedern der Distributionswirtschaft gesamtwirtschaftlich als notwendig erachtete Aufgaben zugewiesen und den Handelsbetrieben die Erfüllung dieser Funktionen als Zielsetzung vorgegeben. Genannt werden: Versorgungsfunktion (Zirkulationsfunktion), Funktion der Bedarfsforschung, Funktion der Bedarfslenkung, Funktion der Produktionslenkung und schließlich eine ideologische Funktion. Literatur. Gümhel, R., Handel, Markt und Ökonomik, Wiesbaden 1985. Hansen, U., Beschaffung.s- und Absatzmarketing des Einzelhandels, 2. Aufl., Göttingen 1990. Marré, H., Funktionen und Leistungen des Handelsbetriebes, Köln, Opladen 1960. Schenk, H. O., Geschichte und Ordnungstheorie der Handelsfunktionen, Berlin 1970.
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