Kapitaltheorie
1. K. beschäftigt sich mit den Allokations- (Allokation), Distributions- und Stabilisierungsproblemen (Stabilisierungspolitik), die sich aus der Existenz von produzierten Produktionsmitteln , von Kapitalgütern , ergeben. Kapitalgüter unterscheiden sich hinsichtlich der Produktionskoeffizienten , der ökonomischen Lebensdauer und des Zeitpunktes ihres Einsatzes in einem zeitraubenden Produktionsprozeß. Sie sind gleichzeitig Mittel der effizienten Allokation der Ressourcen, u.zw. sowohl atemporal als auch intertemporal, der Durchsetzung von Innovationen und der Einkommensverteilung . Weil Kapitalgüter heterogen sind, weil sie gleichzeitig mehrere Aufgaben erfüllen, sind die Zusammmenhänge derart komplex, daß nur eine rigorose Reduktion auf einige analytische Ansätze, Begriffe und Modelle zu ökonomisch relevanten Aussagen führt. Die Wahl der analytischen Ansätze, Begriffe und Modelle ist Ursprung und Ziel der für die K. charakteristischen Kontroversen.
2. Die gegenwärtig dominierenden Ansätze sind der neoklassische, der neokeynesianische und der neomarxistische Ansatz. Dogmengeschichtlich kann für den neoklassischen Ansatz die Folge A. Smith J. St. Mill L. Walras und E. v. Böhm Bawerk K. Wicksell Cambridge (Mass.), für den neokeynesianischen und den neomarxistischen die Folge A. Smith D. Ricardo K. Marx J. M. Keynes Cambridge (Engl.) gebildet werden. Die Kontroverse zwischen den Ansätzen, die Cambridge-Kontroverse, wird mit Hilfe der gleichen Begriffe und Modelle ausgefochten. Durch Aggregation werden die Begriffe Kapital (-menge, -wert), Arbeit und Produktion ; Konsum , Sparen und Investieren (Investition); Durchschnitts- und Grenz(wert-)produkte von Kapital und Arbeit; Zins- und Lohneinkommen (Einkommen) gebildet. Die Begriffe werden in Konsumgüter-Kapitalgüter-Modellen in einen funktionalen Zusammenhang gebracht, indem sie auf die Arbeitseinheit bezogen werden Kapitalintensität gK, Arbeitsproduktivität aN, Konsumrate c, Sparrate, Investitionsrate, Lohnrate w; indem sie auf die Kapitaleinheit bezogen werden Kapitalproduktivität , Kapitalakkumulationsrate g, Zinsrate r; indem sie schließlich nach dem Dualitätsansatz maximaler Produktionswert gleich minimaler Zurechnungswert (minimale Kosten) in Modellen in einen funktionalen Zusammenhang gebracht werden, u.zw. durch die Produktivitätsfunktion aN = f(gK), die Lohnkurve w = f(r) für gegebene Produktionskoeffizienten, die Faktorpreisfront w = j(r) für gegebenes technisches Wissen, die Konsumkurve c = f(g) für gegebene Produktionskoeffizienten, die Optimale Transformationsfront c = y(g) für gegebenes technisches Wissen. Lohnkurve und Faktorpreisfront sind jeweils die Ortslinie aller w/r-Verhältnisse bei minimalem Zurechnungswert, die Konsumkurve und die Optimale Transformationsfront sind jeweils die Ortslinie aller c/g-Verhältnisse bei maximalem Produktionswert. Die Faktorpreisfront ist die innere Umhüllende der Lohnkurven, die Optimale Transformationsfront ist die äußere Umhüllende der Konsumkurven. Lohn- und Kostenkurven einerseits, Faktorpreis- und Optimale Transformationsfront andererseits sind mathematisch identisch.
3. Mit Hilfe dieses Instrumentariums werden Effizienzbedingungen der atemporalen und intertemporalen Allokation abgeleitet sowie die logischen Möglichkeiten eines sinkenden Kapitalwertes bei steigendem w/r-Verhältnis (Kapitalreversion, Kombination aus negativen realen und preislichen Wicksell -Effekten) und der Wiederkehr einer niedrigeren Kapitalintensität bei einem höheren w/r-Verhältnis (Reswitching, negativer realer Wicksell-Effekt). Auf dieser Grundlage wird die empirische Relevanz grundlegender neoklassischer Aussagen diskutiert. Diese Aussagen sind: Es gibt eine positive Beziehung zwischen Kapitalmenge und Kapitalwert. Der Produktionswert pro Arbeitseinheit ist umso höher, je höher der Kapitalwert pro Arbeitseinheit ist. Im stetigen Zustand ist das Grenzwertprodukt des Kapitals gleich der zugerechneten Zinsrate und das Grenzwertprodukt der Arbeit gleich der zugerechneten Lohnrate. Das Lohnrate/Zinsrate-Verhältnis ist umso höher, je höher das Kapitalwert/Arbeit-Verhältnis ist. Das Kapitalwert/Produktwert-Verhältnis ist umso höher, je niedriger die Zinsrate ist. Im stetigen Zustand ist der dauernd verfügbare Konsum pro Arbeitseinheit umso höher, je niedriger die Zinsrate ist; er ist maximal, wenn die Zinsrate gleich der Wachstumsrate des Kapitalwerts ist. Das sind Aussagen, die mit Hilfe eines Ein-Gut-Kapitalmodells abgebildet werden können. Die aufgezählten neoklassischen Aussagen werden in ihrer Allgemeingültigkeit infragegestellt: Die Kapitalmenge ist nicht definierbar und nicht meßbar, eine eindeutige Beziehung zwischen Kapitalwert und -menge kann es deshalb nicht geben. Die eindeutigen neoklassischen Aussagen zur Beziehung zwischen Kapitalwert, Produktionswert, Grenzwertprodukt von Kapital und Arbeit, Lohnrate/Zinsrate-Verhältnis und dauernd verfügbarem Konsum pro Arbeitseinheit sind damit nicht aufrechtzuerhalten. Insbesondere die Grenzwertprodukte von Kapital und Arbeit sind ohne exogene Vorgaben der Profitraten nicht determiniert. Das sind Aussagen, die mit Hilfe eines Konsumgut-Kapitalgutmodells mit unterschiedlichen Produktionskoeffizienten abgebildet werden können.
4. Die Neoklassiker halten Kapitalreversion und Reswitching für empirisch irrelevant und verwenden weiterhin bei ihrer theoretischen, empirisch/statistischen und beratenden Tätigkeit die grundlegenden Aussagen. Sie betrachten das Ein-Gut-Kapitalmodell als allgemein anwendbares heuristisches Instrumentarium. Die Kritiker (Neokeynesianer und Neomarxisten) halten Kapitalreversion und Reswitching für theoretisch relevant und glauben, in ihrer Tätigkeit die neoklassischen Aussagen ignorieren zu können. Sie halten das Ein-Gut-Kapitalmodell für ein nicht allgemein anwendbares heuristisches Instrumentarium.
5. Jedoch ist die Kontroverse um die neoklassischen Aussagen nur vordergründig. Letztlich geht es dabei um die Frage, ob die effizienten Preise und Mengen bei Existenz von Kapitalgütern durch die volkswirtschaftlichen Rahmenbedingungen eindeutig bestimmt werden oder ob es hierfür Indeterminiertheitsbereiche gibt, die durch gesellschaftliche Institutionen ausgefüllt werden. Von den Neoklassikern wird Determiniertheit postuliert, wenn die atemporale und die intertemporale Allokation analysiert wird. Effizienzmengen und -preise werden simultan und eindeutig bestimmt. Die Kapitalgüter leiten ihren Wert indirekt aus dem Wert der Endprodukte ab. Kapitalbestand und-akkumulation sind Ergebnis eines Konsumverzichts in Vergangenheit und Gegenwart. Die Verteilung ist ein Ergebnis der Preisbildung. Von den Kritikern wird Indeterminiertheit postuliert, wenn die atemporale und intertemporale Allokation analysiert wird. Effizienzmengen und-preise sind erst dann bestimmt, wenn gesellschaftliche Institutionen die Indeterminiertheit ausfüllen. Der Wert der Kapitalgüter ist erst bestimmt, wenn die Zinsrate vorgegeben ist. Der Begriff des Grenzprodukts des Kapitals verliert seine zentrale Bedeutung. Die Beziehung zwischen Kapitalakkumulation und Konsumverzicht ist sehr locker. Die Verteilung geht der Preisbildung voraus. Die Indeterminiertheit, ein spezifischer Allokationsmechanismus, der die Lücke ausfüllt, die daraus folgende Möglichkeit der suboptimalen langfristigen Entwicklung einerseits, die Determiniertheit der neoklassischen langfristigen Entwicklung andererseits, sind ein wichtiges Thema der Cambridge-Kontroverse. Dabei werden einerseits (Cambridge, Mass.) der Knappheits- und der Gleichgewichtsaspekt, andererseits (Cambridge, Engl.) der Verteilungs- und Ungleichgewichtsaspekt betont. Bei Cambridge (Mass.) ist die neo-österreichische K. eine Variante, die dem Zeitmoment eine entscheidende Rolle zuschreibt. Bei Cambridge (Engl.) ist die neomarxistische K. eine Variante, die der Arbeitswertlehre , der Ausbeutung und dem Widerspruch zwischen Produktionskräften und Produktionsverhältnissen eine entscheidende Rolle zuschreibt.
Literatur: Ch. J. Bliss, Capital Theory and the Distribution of Income. Amsterdam, Oxford, New York 1975. E. Burmeister, Capital theory and Dynamics. Cambridge (Mass.), London, New York 1980. St. A. Marglin, Growth, Distribution, and Prices. Cambridge (Mass.), London 1984. C. C. v. Weizsäcker, Steady State Capital Theory. Berlin, Heidelberg, New York 1971.
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