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rationale Erwartungen


1. Bei fast allen Entscheidungen der Wirtschaftssubjekte spielen Erwartungen eine wichtige Rolle. Unternehmer richten ihre Produktionspläne an Absatzerwartungen aus, Kapitalanleger versuchen, zukünftige Erträge und Risiken alternativer Anlageformen abzuschätzen, und Konsumenten ziehen die zukünftige Entwicklung ihrer Einkommen und der Güterpreise ins Kalkül. Die Modellierung der Erwartungsbildung hat deshalb zentrale Bedeutung für Wirtschaftstheorie, Ökonometrie und die Analyse wirtschaftspolitischer Fragestellungen (Theorie der Wirtschaftspolitik).
2. Eine hergebrachte Hypothese besagt, daß zukünftige Werte einer Variablen so prognostiziert werden, daß vergangene Beobachtungen schematisch in die Zukunft extrapoliert (Extrapolation) werden. So spricht man z.B. von "adaptiven" Erwartungen, wenn eine Prognose einfach als geometrische Reihe vergangener Realisationen gebildet wird. Rein extrapolative Verfahren sind aber nicht effizient, sofern zusätzliche Information über relevante Einflußfaktoren verfügbar ist, die ungenutzt bleibt. Dann käme es i.d.R. zu systematischen Über- oder Unterschätzungen, also zu systematisch verzerrten Prognosen. Aber würden rationale Wirtschaftssubjekte nicht aus solchen Fehlern lernen und nach einem besseren Prognoseverfahren suchen? Hier setzt die moderne Hypothese "rationaler Erwartungen" an. Ihr Grundgedanke ist, daß die Individuen eine Vorstellung davon haben, wie ökonomische Größen voneinander abhängen, und daß sie ihr Wissen und alle verfügbaren Informationen "optimal" für ihre Prognosen nutzen. Die r.-Hypothese paßt also zu dem Konzept des rationalen, seine Zielfunktion optimierenden Individuums, mit dem die Ökonomen im allgemeinen arbeiten.
3. Wie lassen sich r. modellieren? In den üblichen linearen Modellen sind Erwartungen genau dann rational, wenn sie repräsentiert werden durch den Erwartungswert der zu prognostizierenden Größe, konditioniert auf sämtliche Information, die für die Individuen verfügbar ist. Es gilt dann:
(1)    
rationale Erwartungen

, Definition von r. wobei
rationale Erwartungen

  die zum Zeitpunkt t - i gebildete Erwartung über die Realisation der Variablen y in t + k ist, und die "Informationsmenge Æt-i sämtliche zum Zeitpunkt t  i aus der Vergangenheit verfügbare Informationen enthält. Der auf diesen Informationsstand bedingte Erwartungswert liefert unverzerrte ("erwartungstreue") Prognosen, d.h. die Erwartung weicht nur rein zufällig, nicht jedoch systematisch, von dem wahren Wert ab. Er ist ferner insofern optimal, als die Streuung der Prognosen um den wahren Wert minimal ist verglichen mit allen anderen Prognoseverfahren. Man spricht deshalb auch von "Minimum-Varianz-Prognosen". Es leuchtet ein, daß die Präzision der Prognosen i.d.R. mit dem Umfang der Informationsmenge zunimmt.
4. Zur Illustration betrachten wir ein zwar einfaches, aber wichtiges Makromodell.
(2)    
rationale Erwartungen

    Outputnachfragefunktion
(3)    
rationale Erwartungen

    Outputangebotsfunktion
(4)    
rationale Erwartungen

    Gleichgewichtsbedingung
(5)    
rationale Erwartungen

  Annahme von r. Alle Variablen sind Logarithmen (zur linearen Darstellung). Nach
(2) ist die Outputnachfrage yN abhängig von der Realkasse m  p (deren Koeffizient zur Vereinfachung gleich l gesetzt ist). Nach
(3) ist das Outputangebot yA gleich einem konstanten Normaloutput
rationale Erwartungen

, sofern das laufende Preisniveau am Ende der Vorperiode fehlerfrei antizipiert wurde. Falls das Preisniveau unterschätzt wurde (positiver Prognosefehler), übersteigt das Angebot den Normaloutput.
(4) ist die Gleichgewichtsbedingung. Substituiert man
(2) und
(3) in
(4) und nimmt r. an, so ergibt sich:
(6)    
rationale Erwartungen

  , so daß folgt:
(7)    
rationale Erwartungen

  . Preisprognose. Die Preisprognose wird also auf eine Prognose der Geldmenge zurückgeführt. Der Normaloutput 
rationale Erwartungen

 dagegen ist  weil konstant  bekannt und daher bereits in
rationale Erwartungen

  enthalten.
(7) eingesetzt in
(6) ergibt die Lösung für das Preisniveau:
(8)    
rationale Erwartungen

  .          Preisniveaulösung Hängt das Outputangebot wie in
(3) nur von der nicht erwarteten Komponente
rationale Erwartungen

   des Preisniveaus ab ("Lucas-Angebotsfunktion"), so haben r. bei voller Information eine wichtige Implikation: Der Output kann nicht systematisch, sondern nur zufällig vom Normaloutput abweichen. Dies sieht man auch, wenn man
(7) und
(8) in
(3) einsetzt:
(9)    
rationale Erwartungen

  .          Outputlösung Wenn die Öffentlichkeit den Mechanismus durchschaut hat, nach dem die Zentralbank Geldpolitik betreibt (m setzt), wird die Geldmenge unverzerrt, also im Mittel richtig, prognostiziert. Wie
(9) zeigt, ist dann expansive Geldpolitik nicht in der Lage, den Output über sein früheres Niveau anzuheben, sondern erhöht nur, wie
(8) zeigt, das Preisniveau, bzw. die Inflationsrate . Natürlich könnte die Zentralbank zunächst einen positiven Outputeffekt erzielen, indem sie die Öffentlichkeit mit einem plötzlichen Geldmengenschock überrascht. Ein solcher Überraschungseffekt wäre jedoch nicht von Dauer, da sich die rationalen Individuen nicht fortwährend täuschen ließen, sondern versuchen würden, aus dem Zentralbankverhalten den neuen geldpolitischen Mechanismus zu erlernen. Wegen der Unsicherheit über das neue Verhalten der Zentralbank ist nicht auszuschließen, daß die Öffentlichkeit während der Lernphase die Geldpolitik expansiver einschätzt als sie tatsächlich ist, so daß für einigePerioden gelten mag:
rationale Erwartungen

  > mt. Nach
(9) fiele dann der Output vorübergehend unter sein normales Niveau und der expansive Anfangserfolg der Zentralbank würde ins Gegenteil verkehrt. Die wirtschaftspolitische Implikation des Modells ist demnach, daß die Zentralbank besser auf diskretionäre Stabilisierungspolitik verzichten und sich stattdessen auf eine gleichmäßige, glaubwürdige, die Geldwertstabilität ermöglichende Geldversorgung öffentlich festlegen sollte. Unser Beispiel zeigt auch, daß die Wirtschaftspolitiker die Konsequenzen diskretionärer Änderungen der Politik nur schwer zuvor abschätzen (simulieren) können. Denn rationale Individuen reagieren auf beobachtete Änderungen der Politik mit Änderungen ihrer Erwartungen und damit ihrer Verhaltensweisen, so daß wirtschaftspolitische Erfahrungen entwertet werden ("Lucas-Kritik").
5. Die r.-Hypothese ist noch für viele andere Probleme wichtig. So impliziert sie z.B., daß jede neue ökonomisch bedeutsame Information an hochorganisierten Finanzmärkten  (Aktien , Rentenwerte , Devisen) sofort in den Kursen berücksichtigt wird. An solchen (informations-) effizienten Märkten können daher überdurchschnittliche Spekulationsgewinne nur durch Ausnutzung von Insider-Information erzielt werden.

Literatur: E. F. Fama, Efficient Capital Markets: A Review of Theory and Empirical Work. The Journal of Finance 25, 1970, 383-417. M. J. M. Neumann, Rationale Erwartungen in Makromodellen  Ein kritischer Überblick. Zeitschrift für Wirtschafts- und Sozialwissenschaften 99, 1979, 371-401. R. J. Shiller, Rational Expectations and the Dynamic Structure of Macroeconomic Models: A Critical Review. Journal of Monetary Economics 4, 1978, 1-44.

 

 


 

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