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Berufsgenossenschaft


Inhaltsübersicht
I. Begriff
II. Historische Entwicklung
III. Gesetzliche Grundlagen
IV. Aufgaben
V. Organisation
VI. Beiträge
VII. Kritische Würdigung und Ausblick

I. Begriff


Der Begriff nimmt Vorläufer-Begriffe wie „ Unfallgenossenschaft “ und „ Unfallversicherungsgenossenschaft “ auf. Er bringt die solidarische Haftung von Unternehmen einer Branche zum Ausdruck, zugleich geht begrifflich der Bezug zum Arbeitsunfall verloren. Dies mag sich daraus erklären, dass Bismarck, der Berufsgenossenschaft ursprünglich auch die Invaliden- und Altersversorgung übertragen wollte.

II. Historische Entwicklung


Das Reichshaftpflichtgesetz (1871), das den Unternehmer zum Abschluss einer privaten Versicherung zu Gunsten seiner Arbeiter verpflichtete, erwies sich den Problemen des beginnenden Industriezeitalters und der Entschädigung bei Arbeitsunfällen nicht gewachsen. Die Verletzten mussten dem Unternehmer oder seinen Beauftragten Verschulden nachweisen. Dabei fehlte es auf Grund unterschiedlicher Vermögens- und Bildungsstände an einer Waffengleichheit von Arbeitgebern und Arbeitnehmern. Bismarck, löste 1884 die (private) Versicherungspflicht durch eine (öffentlich-rechtliche) Pflichtversicherung ab. Sie wurde zunächst als Betriebsversicherung für einzelne Industriezweige eingeführt. Nach und nach wurden alle Bereiche der Wirtschaft einbezogen. 1924 wurde die Betriebs- in eine Personenversicherung umgewandelt. Es folgte die Erweiterung des Versicherungsschutzes auf Wegeunfälle und Berufskrankheiten 1925. Seit 1951 sind die Versicherten mit den Arbeitgebern paritätisch an der Selbstverwaltung der Berufsgenossenschaften beteiligt. Prävention und Rehabilitation wurden durch das Unfallversicherungs-Neuregelungsgesetz 1963 ausgebaut. 1996 wurde das Recht der Unfallversicherung in das Sozialgesetzbuch eingeordnet und der Präventionsauftrag auf alle arbeitsbedingten Gesundheitsgefahren erweitert.

III. Gesetzliche Grundlagen


Umfangreiche Rechtsvorschriften für Berufsgenossenschaften finden sich in den §§ 1 – 220 Sozialgesetzbuch (SGB), VII. Buch (Unfallversicherung), vom 07.08.1996 (BGBl. I S. 1254). Ferner finden als Teil der Sozialversicherung folgende Bücher Anwendung: SGB I (Allgemeiner Teil) vom 11.12.1975 (BGBl. I S. 3015), SGB IV (Gemeinsame Vorschriften für die Sozialversicherung) vom 23.12.1976 (BGBl. I S. 3845), SGB IX (Rehabilitation) vom 19.06.2001 (BGBl. I S. 1045), SGB X (Verwaltungsverfahren, Schutz der Sozialdaten, Zusammenarbeit der Leistungsträger und ihre Beziehungen zu Dritten) vom 18.08.1980 (BGBl. I S. 1469, 2218) sowie die Berufskrankheitenverordnung (BKV) vom 31.10.1997 (BGBl. I S. 2623) i.d.F. vom 5.9.2002 (BGBl. I S. 3541).

IV. Aufgaben


Aufgaben der Berufsgenossenschaften sind Prävention, Rehabilitation und Entschädigung bei Arbeitsunfällen und Berufskrankheiten. Berufsgenossenschaften haben mit allen geeigneten Mitteln für die Verhütung von Arbeitsunfällen, Berufskrankheiten und arbeitsbedingten Gesundheitsgefahren sowie für eine wirksame Erste Hilfe zu sorgen. Sie sollen dabei auch den Ursachen von arbeitsbedingten Gefahren für Leben und Gesundheit nachgehen. Bei der Verhütung arbeitsbedingter Gesundheitsgefahren sind sie zur Zusammenarbeit mit den Krankenkassen verpflichtet.
In der Prävention können sie autonomes Recht (Unfallverhütungsvorschriften) gegenüber Unternehmern und Versicherten erlassen. Sie können deren Einhaltung überwachen, vor allem die Betriebe in allen Fragen der Sicherheit und Gesundheit am Arbeitsplatz beraten, Sicherheitspersonal der Betriebe schulen, Geräte und Maschinen auf Arbeitssicherheit prüfen und auch Forschung betreiben. Sie regeln und organisieren arbeitsmedizinische Untersuchungen und sonstige arbeitsmedizinische Maßnahmen. Einige Berufsgenossenschaften haben eigene arbeitsmedizinische Dienste aufgebaut.
Sie haben eine möglichst frühzeitig einsetzende und sachgemäße Heilbehandlung zu gewährleisten. Unter Einbeziehung ausgewählter Ärzte (Durchgangsarzt, Augen- und Ohrenarzt, Beratungsfacharzt, Hautarzt) und Krankenhäuser (Zulassung zum Verletzungsartenverfahren) haben sie Verfahren entwickelt, die vor allem bei schweren Verletzungen eine rechtzeitige und besonders fachkundige Heilbehandlung sicherstellen sollen. In BG-eigenen Krankenhäusern werden Behandlungsangebote der Maximalstufe vorgehalten. An die Heilbehandlung haben sich mit allen geeigneten Mitteln Leistungen zur medizinischen Rehabilitation, zur Teilhabe am Arbeitsleben sowie unterhaltssichernde und andere ergänzende Leistungen anzuschließen. Maßnahmen zur Teilhabe am Arbeitsleben umfassen Hilfen zur Erhaltung oder Erlangung eines Arbeitsplatzes, Maßnahmen zur Berufsfindung, Arbeitserprobung sowie Berufsvorbereitung sowie Umschulung, Ausbildung und Fortbildung. Zu den ergänzenden Leistungen, die eine Teilnahme am Leben der Gemeinschaft ermöglichen sollen, gehören u.a. Rehabilitationssport, Hilfsmittel zur Information und Kommunikation sowie Haushalts-, Wohnungs- und Kraftfahrzeugshilfen.
Es gelten die Grundsätze „ Prävention vor Rehabilitation “ sowie „ Rehabilitation vor Rente “ . Das Prinzip „ Alles aus einer Hand “ ermöglicht synergistische Effekte in Prävention, Rehabilitation und Kompensation und stellt z.B. auch sicher, dass in die Akutheilbehandung bereits Maßnahmen der Frührehabilitation integriert werden können.
Versicherungsschutz genießen alle auf Grund eines Arbeits-, Dienst- oder Lehrverhältnisses Beschäftigten sowie weitere gesetzlich bestimmte Personengruppen, u.a. Lernende während der beruflichen Aus- und Fortbildung. Fehlende Anmeldung des Unternehmens zur Berufsgenossenschaft oder mangelnde Beitragszahlung durch den Unternehmer mindern den Versicherungsschutz für die Arbeitnehmer nicht.
Für die Dauer der Arbeitsunfähigkeit erhält der Versicherte Verletztengeld, das grundsätzlich dem Krankengeld entspricht. Versicherte, deren Arbeitsfähigkeit infolge eines Versicherungsfalls über die 26. Woche nach dem Versicherungsfall hinaus um wenigstens 20% gemindert ist, haben Anspruch auf eine Rente. Außerdem wird Hinterbliebenenversorgung gewährt. Die Entschädigung in der Unfallversicherung wird abstrakt berechnet, also unabhängig davon, ob im Einzelfall ein konkreter Einkommensverlust eingetreten ist. Schmerzensgeld wird nicht gezahlt.
Voraussetzung für die Entschädigung eines Arbeitsunfalls ist ein innerer ursächlicher Zusammenhang zwischen der versicherten Tätigkeit und dem Unfall (haftungsbegründende Kausalität) sowie zwischen dem Unfall und dem zur Entschädigung anstehenden Körperschaden (haftungsausfüllende Kausalität). Daher wird Versicherungsschutz nicht anerkannt z.B. bei eigenwirtschaftlichen Verrichtungen während der Arbeitszeit, bei Spielerei, Neckerei, absoluter Fahruntüchtigkeit infolge Trunkenheit und bei Umwegen sowie Unterbrechungen des Weges nach und von der Arbeitsstätte. Die Verpflichtung auf das Amtsermittlungsprinzip bringt die sozialpolitisch intendierte Grundentscheidung zum Ausdruck, die Berufsgenossenschaft nicht einseitig arbeitgeberorientiert einzusetzen. Sachfremd, aber kostengünstig ist ihre Verpflichtung, bei den Unternehmen das Insolvenzgeld für die Bundesagentur für Arbeit einzuziehen.

V. Organisation


Träger der allgemeinen Unfallversicherung sind 26 branchenmäßig gegliederte bundesunmittelbare gewerbliche sowie 9 landwirtschaftliche Berufsgenossenschaften. Im Metallbereich sind die Berufsgenossenschaften zusätzlich regional gegliedert. Die gewerblichen Berufsgenossenschaften haben sich zum Hauptverband der gewerblichen Berufsgenossenschaften e.V. (HVBG) zusammengeschlossen. Auf regionaler Ebene bilden sie sechs Landesverbände.
Die Berufsgenossenschaften lösen die Haftung der einzelnen Berufsgenossen für Körperschäden aus Arbeitsunfällen, Wegeunfällen und anerkannten Berufskrankheiten ab. Die Verletzten haben sichere Schuldner. Der Betriebsfrieden wird nicht nur zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer, sondern auch unter Arbeitskollegen gestärkt, weil auch die Haftung der Arbeitnehmer untereinander durch das System abgelöst wird und Schuldzuweisungen im Einzelfalle eine vergleichsweise geringe Rolle spielen. Die Berufsgenossenschaften haften auch bei fahrlässigem und sogar verbotswidrigem Verhalten des Verletzten, bei Schuldlosigkeit des Unternehmers und bei schuldhaftem Verhalten von Arbeitskollegen (Gefährdungshaftung). Von der Haftungsfreistellung ausgenommen sind lediglich die vorsätzliche Schädigung und Schädigungen bei der Teilnahme am allgemeinen Verkehr. Bei vorsätzlicher oder grob fahrlässiger Herbeiführung des Arbeitsunfalls kann die Berufsgenossenschaft Rückgriff nehmen.
Die Berufsgenossenschaften sind Selbstverwaltungskörperschaften, die der Staatsaufsicht unterliegen. Ihre Organe, nämlich Vertreterversammlung und Vorstand, sind paritätisch mit Vertretern der Arbeitgeber und der Versicherten besetzt. Die Vertreter der Selbstverwaltung werden alle sechs Jahren in allgemeinen Sozialwahlen bestimmt. Die Mitgliedschaft in der Berufsgenossenschaft beginnt mit der Eröffnung des Unternehmens. Die Vertreter der Selbstverwaltung werden alle sechs Jahre in allgemeinen Sozialwahlen bestimmt.
Neben der Pflichtversicherung kraft Gesetzes besteht auch die Möglichkeit einer Pflichtversicherung kraft Satzung für Unternehmer und ihre im Unternehmen mitarbeitenden Ehegatten. Außerdem können sich auf schriftlichen Antrag, falls keine satzungsmäßige Pflichtversicherung vorgeschrieben ist, Unternehmer und ihre im Unternehmen mitarbeitenden Ehegatten freiwillig bei der Berufsgenossenschaft versichern.

VI. Beiträge


Beitragspflichtig sind allein die Unternehmer. Die Beiträge werden nach Ablauf des Kalenderjahres, in dem die Beitragsansprüche dem Grunde nach entstanden sind, im Wege der Umlage festgesetzt. Berechnungsgrundlage für die Beiträge sind der Finanzbedarf (Umlagesoll), die Arbeitsentgelte der Versicherten und die Gefahrklassen. Für das Arbeitsentgelt gilt eine Höchstjahresarbeitsverdienstgrenze. Die Beiträge werden risikobezogen erhoben (Gefahrtarif). Über Zuschlags-, Nachlass- und Prämienverfahren können finanzielle Anreize zur Prävention gegeben werden. Um unzumutbare Belastungen aus Strukturkrisen einzelner Branchen auszuschließen, hat der Gesetzgeber ein von den Berufsgenossenschaften selbst entwickeltes Rentenlastausgleichsverfahren eingeführt.

VII. Kritische Würdigung und Ausblick


Die berufsgenossenschaftliche Selbstverwaltung hat ihre Gestaltungsspielräume in der Prävention und Rehabilitation mit der Folge genutzt, dass die Beitragsbelastung der Unternehmen in den vergangenen Jahrzehnten im Durchschnitt über alle Branchen hinweg gesunken ist (1960: 1,51%; 1980: 1,46%; 1990: 1,36%, 2004: 1,33%). Andererseits erzeugt der Strukturwandel von der Produktion zur Dienstleistung auch bei den branchengegliederten Berufsgenossenschaften in Zukunft einen Anpassungsbedarf. Forderungen nach Ablösung der Pflichtversicherung und Privatisierung der Berufsgenossenschaften konnten sich bislang nicht durchsetzen, weil die Berufsgenossenschaften 85% ihrer Prämieneinnahmen als Leistungen ausschütten, Prävention weitgehend entfiele und die Verwaltungskosten (einschließlich Gewinnerwartung) in der Privatversicherung höher liegen.
Die Berufsgenossenschaft als Arbeitgebervereinigung (Genossenschaft) zur gemeinsamen Tragung von Risiken am Arbeitsplatz hat durch die Beteiligung der Arbeitnehmervertreter in der berufsgenossenschaftlichen Selbstverwaltung 1951 einen Bedeutungswandel erfahren. Zur Rechtfertigung der Alleinfinanzierung seitens der Arbeitgeber weisen die Versicherten auf den Charakter der BG-Beiträge als „ vorenthaltenen Lohn “ hin. Ungeachtet unterschiedlicher Ausgangsinteressen beeindruckt in der Praxis die hochentwickelte Konsenskultur der Sozialpartner in der als gemeinsam empfundenen Verantwortung für humanitäre und zugleich wirtschaftliche Problemlösungen. Die paritätische Selbstverwaltung hat sich im Hinblick auf ihre Gestaltungsbefugnisse in der Prävention und Rehabilitation auch in der europäischen und internationalen Perspektive als sehr handlungsfähig und als Strukturvorteil des Systems erwiesen.
Eine Bekräftigung des Bedeutungswandels des Rechtsinstituts Berufsgenossenschaft ist 1996 durch die legislative Beseitigung der mitgliedschaftlichen Struktur der Berufsgenossenschaften eingetreten. Das SGB VII regelt nicht mehr die Mitgliedschaft der Unternehmen in der Berufsgenossenschaft; es spricht nur noch von der fachlichen und örtlichen Zuständigkeit der Berufsgenossenschaften.
Die Grundstrukturen der Berufsgenossenschaft als öffentlich-rechtliches System der Ablösung der privatrechtlichen Arbeitgeberhaftung war in der jüngeren Vergangenheit erklärtes Vorbild für Politik und Wissenschaft, vergleichbare kollektive Haftungsablösungssysteme bei der Arzthaftpflicht, der Umwelthaftung und der Verkehrshaftpflicht in Erwägung zu ziehen.
Eine wichtige Zukunftsaufgabe ist es, im Wettbewerb der europäischen Sozialschutzsysteme das BG-Modell als wirtschaftliche und zugleich soziale Lösung für eine Versicherung der Risiken Arbeitsunfall und Berufskrankheit zu vermitteln. Dabei erweist sich das bisher von den Unternehmern gewünschte Umlageverfahren als Nachteil, weil es Unternehmen unter Verletzung genossenschaftlicher solidarischer Haftung ermöglicht, sich durch Verlegung ihres Sitzes in das europäische Ausland bei Beibehaltung ihrer wirtschaftlichen Aktivitäten im Inland finanziellen Belastungen aus früheren Arbeitsunfällen und Berufskrankheiten (Altlasten) zu entziehen.
Literatur:
Bereiter-Hahn, W./Mehrtens, G. : Gesetzliche Unfallversicherung – Handkommentar, 5. A., Berlin 2005
Gitter, W. : Schadensausgleich im Arbeitsunfallrecht, Tübingen 1969
Hauck, K./Noftz, W. : SGB VII – Kommentar, Berlin 2005
Hauptverband der gewerblichen Berufsgenossenschaften, : Festschrift der Verbände der gesetzlichen Unfallversicherung „ 100 Jahre gesetzliche Unfallversicherung “ , Wiesbaden 1987
Krasney, E. O. : Die gesetzliche Unfallversicherung in Bestand und Wandel in mehr als 100 Jahren, in: Neue Zeitschrift für Sozialrecht, 1993, S. 89
Lauterbach, H./Watermann, F. : Unfallversicherung: Sozialgesetzbuch VII – 4. Kommentar, 4. A., Stuttgart 2005
Schulin, B./Radek, E. : Handbuch des Sozialversicherungsrechts – Band 2 (Unfallversicherungsrecht), München 1996
Wickenhagen, E. : Geschichte der gewerblichen Unfallversicherung, München 1980

 

 


 

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