Sozialversicherung
Inhaltsübersicht
I. Einleitung
II. Geschichte
III. Negative Anreizeffekte
IV. Finanzierungsformen der Sozialversicherung
V. Bedrohung der Sozialversicherungen durch den demographischen Wandel
VI. Negative Anreize in der Rentenversicherung
I. Einleitung
Unter den Sozialversicherungen versteht man die öffentlichen Renten-, Kranken-, Pflege-, Arbeitslosen- und Unfallversicherungen. Im Gegensatz zu privaten Versicherungen verbinden die Sozialversicherungen Versicherungs- mit Umverteilungsaufgaben. So versichert die Gesetzliche Krankenversicherung in der Bundesrepublik Deutschland wie eine private Krankenversicherung gegen das Risiko, besonders hohe Gesundheitsausgaben tragen zu müssen. Im Gegensatz zur privaten Versicherung verteilt die Gesetzliche Krankenversicherung aber gleichzeitig auch Einkommen um, z.B. von kinderlosen zu kinderreichen Haushalten. Auch in den anderen Sozialversicherungen finden sich solche historisch gewachsenen Mischungen von Versicherungs- und Umverteilungsaufgaben.
Die Finanzierung der Sozialversicherungsleistungen geschieht zumeist durch zweckgebundene Beiträge der Versicherten, sowie in vielen Fällen durch zusätzliche allgemeine Steuern. Während die Beiträge die Versicherungsaufgaben finanzieren sollen, wird die Subvention einer Sozialversicherung durch allgemeine Steuern durch ihre Umverteilungsaufgaben gerechtfertigt.
Die Bedeutung des Unterschieds zwischen Versicherungs- und Umverteilungskomponenten liegt in der daraus folgenden Aufgabenteilung zwischen Markt und Staat. Sie berührt daher den Kern der sozialen Marktwirtschaft. Wir unterscheiden drei Fälle:
(1) Der Risikoausgleich innerhalb des Lebenszyklus eines einzelnen Individuums kann ohne direkte Eingriffe des Staates über einen (perfekten) Kapitalmarkt geleistet werden. Hierzu gehört z.B. die Erstattung antizipierbarer Gesundheitsausgaben (z.B. der alljährliche grippale Infekt) und ein großer Teil der Altersvorsorge. Dieser Leistungsbereich, obwohl traditionell über Sozialversicherungen abgewickelt, kann daher leicht privatisiert werden. Die Rolle des Staates in diesen Aufgaben ist historisch aus der Unvollkommenheit der Kreditmärkte ableitbar, in modernen Ökonomien mit funktionierenden Kapitalmärkten aber nicht mehr so offensichtlich.
(2) Hinzu kommt der Risikoausgleich zwischen Individuen. Beispiele hierfür sind das Risiko außergewöhnlicher Krankheiten oder, in der Altersvorsorge, eines besonders langen Lebens, da diese Ereignisse die normalen Ersparnisse eines Individuums schnell übersteigen können. Dieser Ausgleich kann nur in einer genügend großen Solidargemeinschaft gefunden werden. Auch dieser Ausgleich kann i.d.R. durch eine private Versicherung stattfinden. Eine Aufgabe des Staates ergibt sich erst dann, wenn aus Gründen des Marktversagens eine Versicherung nicht zustande kommt oder ineffizient hohe Beiträge fordert.
(3) Die reine Umverteilung schließlich, d.h. Einkommenstransferleistungen aus moralischen und politischen Gründen, bedarf des Zwanges und einer für das avisierte Umverteilungsvolumen genügend großen Steuerbasis. Aus beiden Gründen hat in den modernen säkularen Gesellschaften der Staat ein (annäherndes) Monopol für Umverteilung.
Die Aufteilung der Leistungen in Versicherungs- und Umverteilungskomponenten hängt davon ab, was als Risiko, d.h. als nicht vorhersehbare Ereignisse definiert wird. Armut wird üblicherweise nicht darunter verstanden, sodass die Sozialhilfe als reines Umverteilungsinstrument, nicht als Teil einer Sozialversicherung aufgefasst wird. Die meisten Krankheiten gelten dagegen als versicherbare Risiken. Wie fließend der Übergang jedoch sein kann, zeigt sich in der Arbeitslosenversicherung. Ist das Risiko, arbeitslos zu werden, a priori für alle gleich, trägt sie den Namen „ Versicherung “ zu Recht; ist sie jedoch wie Armut ein Ereignis, das systematisch mit vorher bekannten Merkmalen der betroffenen Person korreliert, wird man die Arbeitslosenunterstützung in den Bereich der Umverteilung einordnen. Zudem ändert sich, was vorhersehbar ist, zum Beispiel durch die Genomanalyse, die in Zukunft gewisse Krankheiten nicht mehr versicherbar machen könnte, weil sie bei Vertragsabschluss bereits bekannt sind. Will die Gesellschaft die Kosten einer Behandlung dennoch decken, wäre dies eine reine Umverteilungsleistung.
Aus ökonomischer Sicht sind die Umverteilungs- und Versicherungsaufgaben oft gegensätzlich. Effizienzgesichtspunkte sind wichtig für die Erfüllung der Versicherungsaufgabe im Marktwettbewerb, während Umverteilung immer Ineffizienzen mit sich bringt. Daher stellt sich als eine der Kernfragen der sozialen Marktwirtschaft, inwieweit der Staat in der Sozialversicherung engagiert sein kann, ohne dass dadurch der Boden der Marktwirtschaft verlassen wird, bzw. wie viel Sozialversicherung man dem Markt überlassen kann, ohne dass dabei das soziale Netz zerschnitten wird. Diese sozialpolitische Kernfrage muss immer wieder neu gestellt werden (vgl. eine ausführliche Darstellung für alle Zweige der Sozialpolitik in Börsch-Supan, 1997) So stellt z.B. der demographische Wandel die Finanzierbarkeit der Renten-, Kranken- und Pflegeversicherung in Frage, und der Prozess der Globalisierung akzentuiert die negativen Anreizeffekte der Arbeitslosenversicherung.
II. Geschichte
Die Familie und der Clan sind uralte Formen der Sozialversicherung, die ebenso umverteilen wie versichern. Als Begründer der modernen Sozialversicherung gilt Reichskanzler Bismarck, , der 1883 die Gesetzliche Krankenversicherung, 1884 die Gesetzliche Unfallversicherung, und 1889 den Vorläufer der heutigen Gesetzlichen Rentenversicherung in Deutschland einführte. 1927 folgte in Deutschland die Arbeitslosenversicherung, und erst 1995 wurde die Pflegeversicherung eingeführt (vgl. zur Geschichte der deutschen Sozialversicherung Frerich, 1996). Andere europäische Länder folgten bald mit der Einführung der Renten- und Krankenversicherung, während es in den Vereinigten Staaten von Amerika bis 1933 dauerte, als das „ Social Security “ System der dortigen Rentenversicherung eingeführt wurde. Bis heute gibt es in den USA keine universale Krankenversicherung im Sinne einer Sozialversicherung. In den Jahren nach 1970 wurden die Sozialversicherungen in den meisten Industrieländern stark ausgebaut.
Zum heutigen Zeitpunkt sind die Sozialversicherungsleistungen in Deutschland großzügig im Vergleich zu vielen anderen Industrieländern. Die Kombination aus einem relativ frühen durchschnittlichen Renteneintrittsalter und einem hohen Rentenniveau führt zu einem hohen Ausgabenvolumen der deutschen Gesetzlichen Rentenversicherung pro Rentner. In den mediterranen Ländern liegen die Ausgaben noch höher, in den USA deutlich niedriger. Auch die Leistungen der deutschen Arbeitslosenversicherung liegen im internationalen Vergleich im oberen Mittelfeld, da die Ersatzquote hoch und die Bezugsdauer relativ lang ist. Allerdings setzen die hohe Arbeitslosigkeit, der schnelle technische Fortschritt im Gesundheitswesen und der demographische Wandel die Sozialversicherungen heute wieder unter starken Druck. (Dieser Reformdruck wird von Börsch-Supan und Miegel (Börsch-Supan, /Miegel, 2001) im internationalen Vergleich ausführlich diskutiert).
III. Negative Anreizeffekte
Dieser Druck wird verstärkt durch die Wirkung der bereits erwähnten negativen Anreizeffekte, die alle Zweige der Sozialversicherung plagen. Diese negativen Anreizeffekte sind der Grund für ökonomische Ineffizienzen. Die Rentenversicherung übt Anreize aus, besonders früh in Rente zu gehen; die Krankenversicherung bläht die Nachfrage nach Gesundheitsdienstleistungen auf; die Arbeitslosenversicherung reduziert den Druck, schnellstmöglich eine neue Stelle zu finden. Diese Art der negativen Anreizeffekte werden moralisches Risiko genannt: Das Verhalten der Versicherten verändert sich durch die Tatsache, versichert zu sein. Moralisches Risiko tritt in privaten Versicherungen ebenso auf wie in den Sozialversicherungen. Die historische Erfahrung zeigt jedoch, dass in den Sozialversicherungen das moralische Risiko besonders schwer einzugrenzen ist. Das liegt daran, dass der Zusammenhang zwischen Versicherungsleistung und der Bezahlung für diese Leistung – die Versicherungsprämie, bei den Sozialversicherungen also der Beitrag plus eventuelle allgemeine Steuern – unklarer bleibt als bei Privatversicherungen.
Wenn die Versicherungsprämie für eine Person höher ist als der Gegenwert der Versicherungsleistungen für diese Person, kommt es zu weiteren negativen Anreizeffekten, die sich in der so genannten „ Flucht aus der Sozialversicherung “ ausdrücken. Oft kommt es zu adverser Selektion, weil die Versicherung für gute Risiken zu teuer wird und überproportional die schlechten Risiken anlockt. Die so selektierten schlechten Risiken bewirken eine Prämienerhöhung, sodass im Extremfall ein Teufelskreis in Gang kommt, an dessen Ende die Versicherungsprämie prohibitiv teuer ist. Kommt es nicht zu diesem Extrem, werden Verträge abgeschlossen, die für den größten Teil der Vertragspartner nicht optimal sind. Das Phänomen der adversen Selektion schränkt die Möglichkeiten für eine Privatisierung der Sozialversicherungen stark ein.
1. Ein Beispiel: Die Rentenversicherung
Die Probleme der Sozialversicherung werden am deutlichsten am Beispiel der Rentenversicherung, das wir daher stellvertretend für alle Zweige der Sozialversicherung näher beleuchten. Die Rentenversicherung versichert mehrere Risiken: das Langlebigkeitsrisiko, das Risiko früh invalide zu werden, das Risiko, als Mitversicherter den Versicherungsnehmer zu überleben, und das Kinderlosigkeitsrisiko. Als einer der wichtigsten Gründe für die Einführung staatlicher Alterssicherungssysteme gilt ein Marktversagen, da – so wird argumentiert – die meisten Individuen weder langfristig planen wollen, noch die dazu nötige langfristige Information haben. Zu kurzfristig planende Individuen konsumieren zu viel in ihrer Jugend und müssen daher im Alter mit ineffizienten Transferzahlungen alimentiert werden. Etwas weniger paternalistisch sind Argumente, die auf einer verzerrten Risikoeinschätzung beruhen, z.B. darauf, dass die Individuen ihre Lebenserwartung systematisch unterschätzen und daher zu wenig Vermögen aufbauen. Beide Mechanismen verhindern auch das Entstehen eines effizienten Leibrentenmarktes, auf dem sich das Langlebigkeitsrisiko diversifizieren lässt. Empirisch wichtig und zudem nicht einfach durch Leibrenten aufzufangen, ist das langfristige Inflations- und Zinsrisiko einer privaten Altersvorsorge (eine übersichtliche Darstellung der verschiedenen Risiken bietet das Gutachten des Sachverständigenrates (Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, 1996)).
IV. Finanzierungsformen der Sozialversicherung
Zentral für das Verständnis der Funktionsweise von Sozialversicherungen, in denen die Risiken vom Alter der Versicherten abhängen, ist der Unterschied zwischen Umlage- und Kapitaldeckungsverfahren. Dies gilt besonders für die Rentenversicherung, jedoch mutatis mutandis auch für die Kranken- und Pflegeversicherung.
Im Umlageverfahren ( „ pay-as-you-go system “ ) finanziert die jeweils arbeitende Generation die Renten der Generation im Ruhestand. Die Einzahlungen der jungen Generation werden nicht angespart, sondern direkt an die ältere Generation ausbezahlt. Die Renten werden normalerweise an die Löhne der jüngeren Generation angepasst. Das Verhältnis von Renten zu Löhnen entspricht der Rentenersatzquote. Je nachdem, ob die Nettorenten an die Nettolöhne oder die Bruttorenten an die Bruttolöhne angepasst werden, spricht man von Netto- oder Bruttoindizierung. Die interne Rendite des Umlageverfahrens entspricht daher der Summe aus der Wachstumsrate der Erwerbstätigen und der Wachstumsrate des Brutto- bzw. Nettolohns.
Im Gegensatz dazu zahlt im Kapitaldeckungsverfahren ( „ fully-funded system “ ) eine Generation während ihrer Erwerbsphase in einen Fond ein, aus dem dann später, entsprechend verzinst, in der Ruhestandsphase die Renten derselben Generation entnommen werden. Die interne Rendite des Kapitaldeckungsverfahrens entspricht daher dem Kapitalmarktzins.
Im so genannten „ Generationenvertrag “ des Umlageverfahrens sind die jüngere und die ältere Generation finanziell auf das Engste miteinander verbunden, da die Zahl der Rentenempfänger pro Beitragszahler proportional zur Belastung der Beitragszahler ist. Hingegen scheinen die beiden Generationen im Kapitaldeckungsverfahren entkoppelt zu sein. Wegen der den Zinssatz beeinflussenden makroökonomischen Rückkopplungen ist dies allerdings im Allgemeinen falsch, denn eine zunehmende Zahl von Älteren relativ zu den Jüngeren wird im Allgemeinen den Zinssatz senken.
Die Frage, welche der beiden Finanzierungsmethoden, Umlage- oder Kapitaldeckungsverfahren, am vorteilhaftesten ist, wurde in verschiedenen Ländern unterschiedlich beantwortet. In Deutschland deckt seit 1957 die umlagefinanzierte Gesetzliche Rentenversicherung (GRV) der Bundesrepublik Deutschland den größten Teil des Ruhestandseinkommens ab (ca. 80 – 85%). Die GRV ist ein typisches staatliches Umlageverfahren, in dem alle sozialversicherungspflichtigen Arbeitnehmer per Zwang teilnehmen. Sie ist keine reine Versicherung: Sie bewirkt eine Umverteilung des Einkommens innerhalb der jungen Generation (durch die Anrechnung beitragsfreier Jahre, z.B. für Ausbildung oder Kindererziehung), eine Umverteilung innerhalb der älteren Generation (durch die Ausgestaltung der Rentenformel) und eine starke Einkommensumverteilung zwischen den Generationen (durch die historische Veränderung der Beitragssätze, die in der Vergangenheit weniger durch demographische Faktoren als durch die Produktivitätsentwicklung verursacht wurde). Eine vorzügliche Darstellung der institutionellen Ausgestaltung der deutschen Sozialversicherungen bietet Lampert (Lampert, 2001). Auch in Frankreich, Italien und Spanien wird das Ruhestandseinkommen ganz überwiegend durch eine umlagefinanzierte Rentenversicherung gedeckt.
In anderen Industrieländern haben sich stärkere Mischformen ( „ Mehrsäulenmodelle “ ) entwickelt, in denen die Renten zum Teil aus einem Fond, zum Teil aus laufenden Beiträgen finanziert werden. Diese Mischsysteme können einerseits aus dem Nebeneinander verschiedener Institutionen entstehen, etwa einem staatlichen Umlageverfahren ( „ erste Säule “ ), privaten kapitalgedeckten Betriebspensionen ( „ zweite Säule “ ) und eigenen Ersparnissen ( „ dritte Säule “ ), oder durch die Ergänzung eines Umlageverfahrens durch einen Ausgleichsfond, der systembedingte Schwankungen der Beiträge und/oder Renten ausgleichen soll (z.B. der Social Security Trust Fund in den USA). Die Niederlande, die Schweiz und Großbritannien haben Mischsysteme mit in etwa gleichen Anteilen des Umlage- und des Kapitaldeckungsverfahrens. Die Rentenreform 2001 wird die deutsche Rentenversicherung diesen Mischsystemen ähnlicher machen, allerdings nicht bis zu gleichen Anteilen.
Nur wenige Länder haben ein (fast) reines Kapitaldeckungsverfahren in der Rentenversicherung. Beispiele hierfür sind Chile und Singapur.
Die Wirtschaftstheorie gibt eine klare Antwort darauf, welches der beiden Finanzierungsmethoden einer Sozialversicherung am vorteilhaftesten ist, wenn als Maßstab dafür der Pro-Kopf-Konsum der Bürger angewendet wird. Homburg (Homburg, 1989) stellt dies mathematisch klar und überzeugend dar, und zeigt, wie die sogenannte Mackenroth-These fälschlich angewandt wird. Solange man nicht durch andauerndes Beleihen der jeweils nächsten Generation ein sogenanntes „ Ponzi-Spiel “ aufbauen kann, bei dem die Rückzahlung dieses Darlehens in die unendliche Zukunft verlagert werden kann, ist das Kapitaldeckungsverfahren ökonomisch dem Umlageverfahren überlegen, da der höhere Kapitalstock ein größeres Bruttosozialprodukt und damit für alle Beteiligten auch einen höheren Pro-Kopf-Konsum erzeugt.
Allerdings ist der Übergang vom ineffizienteren Umlageverfahren zum effizienten Kapitaldeckungsverfahren selbst mit Ineffizienzen verbunden, da eine Generation sowohl die Bestandsrenten aus dem laufenden Einkommen finanzieren als auch für die eigenen Renten ansparen muss. Im idealtypischen Fall einer versicherungsmathematisch fairen Rentenversicherung, die keine weiteren Rückwirkungen auf das gesamtwirtschaftliche Wachstum hat, wiegt diese Übergangsbelastung den Effizienzgewinn des Übergangs gerade wieder auf. Unter realistischeren Annahmen ergeben sich allerdings echte Effizienzgewinne aus der Verteilung der Belastung durch die Altersstrukturverschiebung, aus einer Verringerung der negativen Anreizeffekte, sowie – dies ist umstritten – aus Rückkopplungseffekten auf den Kapitalmarkt.
V. Bedrohung der Sozialversicherungen durch den demographischen Wandel
Da das reine Umlageverfahren per definitionem mit stets ausgeglichenem Budget operiert, bestimmt sich der Beitragssatz b als Prozentsatz des Arbeitseinkommens aus der Gleichung
b · w · L = p · R bzw. b = p/w · R/L
wobei w bzw. p das durchschnittliche Arbeitseinkommen bzw. die durchschnittliche Rente, p/w das Rentenniveau, und L bzw. R die Anzahl der Arbeitnehmer bzw. Rentner bezeichnen. Bei festem Rentenniveau p/w steigt daher der Beitragssatz proportional zum Rentenlastquotienten R/L. Da im Zuge des demographischen Wandels die Zahl der Erwerbstätigen ab- und die der Rentner zunehmen wird, ist dieser Anstieg dramatisch. Schätzungen für die Bundesrepublik variieren zwischen einem Anstieg von 50 und 67 % innerhalb der nächsten Generation.
Die Lösungen des Finanzierungsproblems der Sozialversicherungen im Umlageverfahren sind begrenzt. Eine Erhöhung der Geburtenrate kann nur eine langfristige Lösung sein; mittelfristig verstärkt sie die Belastung des Sozialsystems, da die neugeborene Generation erst dann hinreichend Erwerbseinkommen verdienen wird, wenn die Rentnerquote bereits wieder abklingt. Eine höhere Einwanderung ist hilfreich, bringt aber ihre eigenen Probleme mit sich und bedarf unrealistisch hoher Einwanderungsraten, wenn sie das Finanzierungsproblem in schnell alternden Ländern wie Deutschland, Italien oder Japan lösen soll. Eine höhere Frauenerwerbsquote hilft ebenfalls, reicht aber quantitativ bei weitem nicht aus. Die vielversprechendste Lösung ist eine Verlängerung der Lebensarbeitszeit. Allerdings kann auch diese Lösungen nicht alleine das Finanzierungsproblem in den schnell alternden Ländern lösen, da z.B. in Deutschland das mittlere Renteneintrittsalter um über 9 Jahre steigen müsste, um die Altersstrukturverschiebung im Rahmen eines ansonsten unveränderten Umlageverfahrens zu kompensieren.
Realistischere Lösungen verteilen die Finanzierungsbelastung des demographischen Wandels auf mehrere Generationen, indem die heutige Generation der Erwerbstätigen durch den Teilübergang zu einem Kapitaldeckungsverfahren einen Teil ihrer zukünftigen Renten selbst durch Ansparen finanziert. Dies ist Kern aller Rentenreformen der letzten Zeit (z.B. Großbritannien 1988, Schweiz 1985, Niederlande 1993, Deutschland 2001). Jedoch ist auch das Kapitaldeckungsverfahren nicht immun gegen die Belastungen durch die Altersstrukturverschiebung, da in deren Zuge der Faktor Arbeit relativ zum Faktor Kapital abnimmt und daher die Rendite des Kapitaldeckungsverfahrens sinkt. Dieser Rückkopplungseffekt ist allerdings weit geringer als der Rückgang der impliziten Rendite des Umlageverfahrens, die sich aus dem Verhältnis von eingezahlten Beiträgen und allgemeinen Steuern zu empfangenen Versicherungsleistungen ergibt.
VI. Negative Anreize in der Rentenversicherung
Die Probleme des demographischen Wandels werden verstärkt durch die negativen Anreizwirkungen der Sozialversicherungen. In der Rentenversicherung drücken sie sich vor allem in der Flucht aus der Sozialversicherung und in der Frühverrentung aus.
Die Flucht aus der Sozialversicherung ist vor allem für jüngere und besser verdienende Beitragszahler vorteilhaft. Simulationsrechnungen ergeben, dass jüngere Geburtsjahrgänge (etwa ab Jahrgang 1980) im Mittel und über das ganze Leben aufsummiert mehr Beiträge in die Rentenversicherung einzahlen als sie Leistungen erhalten werden. Dies liegt, wie weiter oben ausgeführt, am starken Anstieg der Rentenlastquote im Zuge des demographischen Wandels. Da sie im Umlageverfahren nicht vermieden werden kann, wurde eine freiwillige Versicherung zu adverser Selektion führen, sodass die gesetzliche Rentenversicherung eine Zwangsversicherung bleiben muss. Das Problem verschärft sich für Bezieher höherer Einkommen, da hier die Umverteilungsbelastung hinzukommt. Lediglich ein Kapitaldeckungsverfahren kann daher privatisiert und marktwirtschaftlich organisiert werden.
Anreize zur Frühverrentung ergeben sich, wenn die Versicherten die Möglichkeit haben, ihre Rentenzeit durch die Wahl des Pensionierungsalters zu verlängern, die Rentenformel dies aber nicht durch eine ausreichende Absenkung des Rentenniveaus berücksichtigt. Dies ist zum Beispiel in Deutschland der Fall, da die Absenkung nur 3,6% pro Jahr beträgt, ein versicherungsmathematischer Ausgleich aber zwischen 7 und 8% betragen müsste. Die daraus folgende Umverteilung von Einkommen von spät in Rente gehenden Arbeitnehmern zu Frührentnern erweist sich als die quantitativ wichtigste Umverteilung in der deutschen Gesetzlichen Rentenversicherung und kostet über 20% des Rentenbudgets.
Anreizeffekte gibt es nicht nur auf das Arbeitsangebotsverhalten, sondern auch auf das Sparverhalten, da das Umlageverfahren die eigene Ersparnis für die Altersvorsorge zumindest teilweise überflüssig macht. Umstritten ist der Einfluss auf die Geburtenrate. Dadurch, dass die Rentenversicherung das Risiko der Kinderlosigkeit trägt (kinderlose Arbeitnehmer erhalten die gleiche Rente wie solche mit Kindern) ergibt sich ein „ free rider “ Problem. Kinder stellen demnach in der modernen Rentenversicherung eine so genannte positive Externalität dar, die dementsprechend zu wenig angeboten wird. Einige Ökonomen begründen den säkularen Geburtenrückgang mit diesem negativen Anreizeffekt (Cigno, /Rosati, 1996).
Literatur:
Börsch-Supan, A. : Sozialpolitik, in: Springers Handbuch der Volkswirtschaftslehre, hrsg. v. Hagen, J. von/Welfens, P.J. J./Börsch-Supan, A., Heidelberg et al. 1997
Börsch-Supan, A./Miegel, M. : Pension Reform in Six Countries, Heidelberg 2001
Cigno, A./Rosati, F. C. : Jointly Determined Saving and Fertility Behaviour: Theory, and Estimates for Germany, Italy, UK, and USA, European Economic Review 40, 1996, S. 1561 – 1589
Frerich, J. : Sozialpolitik, München 1996
Homburg, S. : Theorie der Alterssicherung, Berlin et al. 1989
Lampert, H. : Lehrbuch der Sozialpolitik, 6. A., Berlin 2001
Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, : Reformen voranbringen. Jahresgutachten 1996/97, Stuttgart 1996
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