Phillips-Theorem
1. Hinter der Bezeichnung P. verbergen sich unterschiedliche Hypothesen über die Verknüpfung des realen mit dem finanziellen Sektor der Wirtschaft . Im Kern versucht das P. die Fragen zu beantworten, ob, wie stark und mit welcher Dauer nachfrageorientierte Wirtschaftspolitik (Theorie der Wirtschaftspolitik) die reale Wirtschaftsaktivität (Beschäftigung, Produktion) beeinflussen kann, oder, ob diese Maßnahmen nur das Preisniveau aufblähen (Inflation).
2. Ursprünglich wurde das P. von dessen Namenspatron A. W. Phillips als eine statistische Beziehung zwischen Arbeitslosenquoten (AQ) und Nominallohnänderungsraten
(Nominallohn) "entdeckt". Zwischen diesen Größen bestand eine nichtlineare, inverse Relation (Abb. 1).
Die theoretische Begründung der Phillips-Kurve (PK) stützte sich auf eine Theorie der Nominallohnbildung auf dem Arbeitsmarkt . Während im langfristigen Gleichgewicht die Entwicklung der Arbeitsproduktivität und die Reallohnsicherung (Reallohn) durch vollständigen Inflationsausgleich die Nominallohnentwicklung bestimmen, sei letztere kurzfristig von Arbeitsmarktungleichgewichten (Angebots- oder Nachfrageüberschüsse) determiniert. Da diese nicht direkt beobachtbar sind, wird dafür in empirischen Untersuchungen eine Näherungsgröße substituiert: die Arbeitslosenquote AQ. Steht diese in einer systematischen und stabilen Beziehung zu Ungleichgewichten im Arbeitsmarkt, können Nominallohnänderungen
in Abhängigkeit von Arbeitslosenquoten formuliert werden:
(1)
. Aus
(1) folgt die modifizierte (aggregative) PK, wenn zusätzlich beachtet wird, daß im Gleichgewicht die Nominallohnänderungsrate gleich der Summe aus Inflationsrate p und Änderungsrate der Arbeitsproduktivität
ist:
(2)
. Die modifizierte PK
(2) war in den Sechziger Jahren Grundlage für empirische Untersuchungen, die ein scheinbar stabiles Austauschverhältnis (trade-off) zwischen Inflation und Arbeitslosenquote entdeckten. Danach existiert für die Wirtschaftspolitik ein Dilemma: Vollbeschäftigung (od. eine niedrigere Arbeitslosenquote) und Preisniveaustabilität sind zusammen nicht erreichbar. Die Wirtschaftspolitik steht vor der Entscheidung, zwischen möglichen alternativen Kombinationen von p und AQ entlang einer stabilen PK entsprechend den vorherrschenden politischen Präferenzen wählen und die resultierenden "unangenehmen" Folgen in Kauf nehmen zu müssen. Die "gewünschte" Inflationsrate muß durch eine entsprechende Ausdehnung der Geldmenge alimentiert werden. Eine unabhängige, stabilitätsorientierte Geldpolitik ist nach dieser Vorstellung nicht möglich, da sie die Erreichung der "gewünschten" Beschäftigung unmöglich macht.
3. Die ursprüngliche PK ist theoretisch ein unvollständiges Konzept, da sie in der zugrundeliegenden Lohnanpassungshypothese die inflationsbedingte Reallohnsicherung ausschließt, somit Geldillusion am Arbeitsmarkt unterstellt. Die Einbeziehung von Inflationserwartungen (pe) führt zur erweiterten PK oder zum Modell der natürlichen Arbeitslosenquote (AQn). Letztere wird durch das Gleichgewicht der "natürlichen" Kräfte von Angebot und Nachfrage am Arbeitsmarkt bei Fehlen von Geldillusion bestimmt. Die Beschäftigung weicht vom natürlichen Niveau nur durch Fehleinschätzungen der Inflation (unerwartete Inflation) ab. Da ständige Geldillusion ausgeschlossen ist, können von AQn divergierende Arbeitslosenquoten nur transitorischen Charakter besitzen. Im langfristigen Gleichgewicht sind reale Größen (Reallohn, Beschäftigung) von nominalen Größen (Inflation) unabhängig. Die um Erwartungen erweiterte PK hat folgende Form:
(3) p = a (AQn - AQ) + pe. Da im langfristigen Gleichgewicht keine Geldillusion herrscht (p = pe), ist die natürliche Arbeitslosenquote AQn grundsätzlich mit jeder vollständig erwarteten Inflation vereinbar, die langfristige PK (LPK) somit eine Vertikale über AQn (Abb. 2).
Abb. 2 verdeutlicht, daß Abweichungen der tatsächlichen von der natürlichen Arbeitslosenquote (AQn - AQ) nur bei temporërer Geldillusion möglich sind (p ¹ pe). Das Modell der natürlichen Arbeitslosenquote bedarf sollen kurzfristige PK erklärt werden Hypothesen über die Bildung von Inflationserwartungen, die transitorische Fehleinschätzungen der Inflation erlauben. Die diesbezüglich bekannteste Hypothese ist die adaptiver Bildung von Inflationserwartungen. Danach werden laufende Inflationserwartungen (für die nächste Periode) als geometrisch gewichtete Summe laufender und vergangener tatsächlicher Inflationsraten gebildet. Diese spezielle Erwartungsbildungshypothese, die alternativ auch als teilweise Anpassung von Inflationserwartungen an aufgetretene Erwartungsfehler beschrieben werden kann, erlaubt temporäre Geldillusion. Bilden die Anbieter von Arbeit ihre Inflationserwartungen adaptiv, so werden sie bei ansteigender Inflation anfänglich über deren Ausmaß getäuscht, da pe nur langsam angepaßt wird, für eine bestimmte Zeit somit unerwartete Inflation auf Seiten der Arbeitsanbieter existiert. Als Folge werden ihre Nominallohnforderungen die tatsächliche Inflation nicht vollständig ausgleichen. Dies führt bei Arbeitsnachfragern zu sinkenden tatsächlichen Reallöhnen, bei Arbeitsanbietern zu fälschlicherweise wahrgenommenen Reallohnsteigerungen und somit insgesamt zu temporären Beschäftigungssteigerungen bei höherer Inflation. Diese Situation ist in Abb. 2 als Bewegung auf einer kurzfristigen PK (KPKo) gekennzeichnet. Das Modell der natürlichen Arbeitslosenquote mit adaptiver Bildung von Inflationserwartungen erlaubt einen kurzfristigen, jedoch keinen langfristigen trade-off zwischen p und AQ. Jeder wirtschaftspolitische Versuch, die Arbeitslosenquote auf Dauer unter das natürliche Niveau zu senken, müßte zu einer permanent sich beschleunigenden Inflation führen (Akzelerationshypothese), da nur so die vollständige Anpassung der Inflationserwartungen an die tatsächliche Entwicklung verhindert werden kann. "Stabile" Inflationsraten gleich welcher Höhe müssen demnach auf der langfristigen PK liegen.
4. Die Informationen, auf deren Grundlage bei adaptiver Erwartungsbildung zukünftige Inflation antizipiert wird, sind laufende und vergangene Werte der zu prognostizierenden Größe. Die Theorie rationaler Erwartungsbildung (rationale Erwartungen) postuliert, daß darüber hinaus weitere Informationen über die Inflationsentwicklung bekannt sind und von den Wirtschaftssubjekten optimal zur Bildung von Inflationserwartungen herangezogen werden. Ist insbesondere die Struktur des Inflationsprozesses bekannt wie auch die statistischen Eigenschaften dabei auftretender Störterme, so können auf der Grundlage dieser Kenntnisse durchschnittlich unverzerrte Schätzwerte der zukünftigen Preisniveauentwicklung gebildet werden. Systematische Fehleinschätzungen der Inflation wie sie bei adaptiver Erwartungsbildung auftreten sind damit ausgeschlossen. Wird die Hypothese rationaler Erwartungsbildung mit dem Modell der natürlichen Arbeitslosenquote verknüpft, so ändern sich die Schlußfolgerungen im Vergleich zu denen bei adaptiven Erwartungen drastisch. Die tatsächliche weicht von der natürlichen Arbeitslosenquote dann nur durch unerwartete Zufalls- oder Politikgrößen ab, mit der Konsequenz, daß systematische Wirtschaftspolitik die Arbeitslosenquote nicht verändern kann. Nur zufällige, d.h. unsystematische und daher nicht vorhersehbare Politik hat Einfluß auf reale Größen. Phänomene, wie sie die PK empirisch beschreibt, bieten dann keinen verläßlichen Ansatzpunkt für nachfrageorientierte Wirtschaftspolitik. Diese drastischen Konsequenzen sind u.a. von verschiedenen Annahmen und Hypothesen über die Funktionsweise von Märkten abhängig. Daraus ragt die Unterstellung hervor, daß vollkommene Preis- und Lohnflexibilität für kontinuierliche Markträumung sorgen.
5. Werden für die Bundesrepublik Deutschland Kombinationen von Jahresdaten der Inflationsrate p und der Arbeitslosenquote AQ in ihrer zeitlichen Entwicklung von 1953 bis 1993 aufgetragen, so ergibt sich folgendes Bild (Abb. 3).
Abb. 3: Inflation und Arbeitslosenquote in der Bundesrepublik Deutschland Abb. 3 verdeutlicht: Es existiert erstens kein stabiler trade-off, zweitens ist für kürzere Zeitabschnitte die PK vertikal und drittens sind die seit 1960 beobachteten Steigerungen der Arbeitslosenquote in erster Linie auf mehrmalige Erhöhungen der natürlichen Arbeitslosenquote zurückzuführen (1960-1973: ~ 1%; 1975-1980: ~ 4,3%; 1983-1988: ~ 9%).
Literatur: M. Friedman, The Role of Monetary Policy. The American Economic Review 58 (1968), 1-17. M. Friedman, Nobel Lecture: Inflation and Unemployment. Journal of Political Economy 85 (1977), 451-472.
|