Prüfungslehre
Inhaltsübersicht
I. Definition
II. Nachfrage nach Prüfungslehre
III. Theorieangebot
IV. Aktuelle Fragen
V. Fazit
I. Definition
Prüfungslehre umschließt die Menge wissenschaftlicher Aussagen zum Objekt Prüfung. Prüfungen lassen sich prozessual, funktional und institutionell betrachten. Nach dem ersten Aspekt sind Prüfungen Vorgänge, in denen Sachverhalte, Eigenschaften von Objekten oder Aussagen über eines von beiden mit geeigneten Bezugsgrößen verglichen werden. Kurz gefasst spricht man von einem „ Soll-Ist-Vergleich “ . Funktional dienen Soll-Ist-Vergleiche dazu, eine Übereinstimmung oder Abweichung der verglichenen Größen zu ermitteln. Abweichungsermittlungen und -beurteilungen dienen den Zwecken der Entscheidungsfundierung und der Verhaltenssteuerung. Institutionell sind Prüfungen als Einrichtungen zum Schutz der Interessen von gegenwärtigen und potenziellen Vertragspartnern sowie einer weit verstandenen Öffentlichkeit anzusehen, deren historische Entwicklung, ökonomische Effizienz und Substitutionsmöglichkeiten durch andere Schutzinstrumente interessieren. Prüfungslehre verbindet die aus prozessualer, funktionaler und institutioneller Sicht gewonnenen wissenschaftlichen Aussagen und vernetzt sie zu einem Ganzen.
II. Nachfrage nach Prüfungslehre
Neben an wissenschaftlicher Erkenntnis interessierten Forschern und an Ausbildung interessierten Studenten können als Adressaten einer Prüfungslehre Prüfer, Geprüfte, Adressaten des Prüfungsergebnisses und der Staat angesehen werden. Prüfer suchen die Kenntnis der Regeln handwerklicher Kunst als Entscheidungshilfe; Geprüfte verwenden diese Regeln zur Selbstprüfung und zur Antizipation von Prüferverhalten. Adressaten des Prüfungsergebnisses und den Staat interessieren die Funktionsfähigkeit institutioneller Regelungen zum Schutz der Interessen Dritter. Einschlägige wissenschaftliche Zeitschriften (wie Accounting Review; Auditing: A Journal of Practice & Theory; Contemporary Accounting Research; International Journal of Auditing, Journal of Accounting Research; Die Wirtschaftsprüfung) dokumentieren die Nachfrage nach wissenschaftlichen Aussagen als Elemente der Prüfungslehre.
III. Theorieangebot
Bei wissenschaftlichen Satzsystemen lassen sich Begriffssysteme von Beschreibungs-, Erklärungs-, technologischen, ethischen und wissenschaftstheoretischen Systemen unterscheiden (Wild, 1976). Mit Bezug auf Popper, interessieren empirisch gehaltvolle Erklärungssysteme (Theorien mit explanatorischer Funktion); sie sind die Voraussetzung für die Entwicklung leistungsfähiger technologischer Systeme mit praxeologischer oder hypothetisch-normativer Funktion.
Um empirisch gehaltvolle, falsifizierbare Gesetzesaussagen bemühen sich Vertreter des empirisch-kognitiven und des verhaltensorientierten Ansatzes der Prüfungstheorie. Trotz jahrzehntelangen Forschungsbemühens wurden Gesetzmäßigkeiten kaum gewonnen. Bis heute dominieren Ansätze, die analytische Grundlagen vermitteln, Rationalitätskalküle verdeutlichen und nur auf logische Richtigkeit überprüfbar sind. Hierzu zählen der messtheoretische Ansatz von v. Wysocki, /, der von Baetge, J./ und seinen Schülern entwickelte systemtheoretische Ansatz und der spieltheoretische Ansatz, der – im deutschsprachigen Schrifttum von Loitlsberger, ausgehend – parallele Entwicklungen und starke Erweiterungen in angelsächsischer Literatur gefunden hat. Institutionenökonomische und spieltheoretische Modellierungen werden in Deutschland zusehends rezipiert und erweitert, insbes. im Zusammenhang mit Fragen der Erklärung des Zusammenschlusses und der Organisation von Wirtschaftsprüfungsgesellschaften (Hachmeister, 2001), der Signalisierung der Qualität von Prüfungsdienstleistungen (Doll, 2000), der Sicherung der Unabhängigkeit des Abschlussprüfers (Ewert, 1999; Ewert, 1990) und der Rolle des Wirtschaftsprüfers im System der Corporate Governance (Ewert, 1993). Ausgehend von im Einzelnen durchaus kritisierbaren (engen) Prämissen werden z.B. Interaktionen von Manager, Prüfer und Adressat sowie von im Wettbewerb zueinander stehenden Prüfungsgesellschaften analysiert.
IV. Aktuelle Fragen
1. Regulierung
In jüngerer Zeit wurden intensiv Fragen zu institutionellen Rahmenbedingungen ökonomisch analysiert. Sie werden hier unter dem Stichwort Regulierung zusammengefasst. Thematisiert werden insbes. die Vereinbarkeit von Prüfung und Beratung und das Problem der Unabhängigkeit (zu beidem: Arrunada, 1999; Weißenberger, 1999; Antle, /Griffin, /Teece, et al.1997; Böcking, /Löcke, 1997; Lange, S. 1994), die normative Vorgabe und Präzision von Prüfungsgrundsätzen (Ewert, 1999; Watts, /Zimmerman, J. L. 1986), die Anreizwirkungen von Berufsaufsicht (Grant, /Bricker, /Shiptsova, 1996) und Haftung (Ewert, 1999; Frantz, 1999; Herrmann, E. 1997; Thoman, 1996; Dye, 1993.
Wachstums- und Fusionsprozesse von Wirtschaftsprüfungsgesellschaften sind unverkennbar. Damit verbunden sind die Fragen nach den Ursachen für diese Prozesse, nach der internen Steuerbarkeit der immer größer und internationaler werdenden Unternehmen und nach möglichen Beeinträchtigungen des Wettbewerbs. Industrieökonomische Modelle zeigen, dass mit dem Wachstum und der Verringerung der Anbieter am Markt nicht unbedingt eine Beeinträchtigung der Wettbewerbsintensität einhergehen muss. Ökonomische Modelle legen die Schlussfolgerungen nahe, dass mit einer Verringerung der Zahl der Marktteilnehmer die Wettbewerbsintensität sogar zunimmt (Hachmeister, 2001; Sutton, 1991). Höchst relevant, aber theoretisch bisher weitgehend ungeklärt sind die optimalen Organisationsformen für global tätige Wirtschaftsprüfungsgesellschaften (Hachmeister, 2001). Damit verbunden ist u.a. die Frage, wie die Wirtschaftsprüfungsgesellschaft die Qualität ihrer Dienstleistung signalisieren kann.
3. Qualitätsforschung
Im Marketing unterscheidet man Güter mit Such-, Erfahrungs- und Vertrauenseigenschaften. Bei Suchgütern sind deren Eigenschaften vor Kauf erfahrbar; bei Erfahrungsgütern lassen sich die Eigenschaften im Laufe mehrfacher Verwendung erkennen; bei Vertrauensgütern gelingt dies selbst bei mehrfachem Kauf nicht hinreichend. Dienstleistungen von Wirtschaftsprüfungsgesellschaften weisen Eigenschaften von Erfahrungs- und Vertrauensgütern auf. Damit stellt sich das Problem der Signalisierung ihrer Qualität.
Da Qualität ein theoretisches Konstrukt mit Messbarkeitsproblemen ist, haben sich in jüngerer Zeit zahlreiche Untersuchungen mit der konzeptionellen Abgrenzung und Messung von Qualität beschäftigt. Ausgehend von den Bedürfnissen der Adressaten von Prüfungsleistungen (Management, Aufsichtsorgane, Kapitalgeber und breite Öffentlichkeit) wurden erhebliche Diskrepanzen zwischen Leistungserwartungen und Leistungsrealisation wahrgenommen (Doll, 2000; Marten, 1999; Humphrey, /Moizer, /Turley, 1993; Porter, 1993).
Qualitätssignale lassen sich am Prüferpotenzial, der Gestaltung des Prüfungsprozesses und der Herleitung und Mitteilung des Prüfungsergebnisses verankern. Alle Größen werden durch regulative Rahmenbedingungen des Staates bezüglich Berufszulassung und Berufsausübung und durch die Berufsorganisation beeinflusst. Sie können jedoch nur eine bestimmte Mindestqualität, keine im Wettbewerb gegenüber der Konkurrenz herausstellbare besondere Qualität signalisieren. Diesbezügliche Qualitätssignale knüpfen an Sunk Costs (z.B. für Ausbildung, Werbung, Markenname, EDV), freiwillige Bindungen (Garantien, Haftungszusagen) und die Kommunikation effektiver und effizienter Urteilsgewinnung (breiter Mandantenkreis, erfahrene Dienstleister, strukturierte Prüfungsansätze) an. Aus der Sicht der Adressaten von Prüfungsergebnissen ist die Sicherung der Unabhängigkeit besonders bedeutend. Als ein Signal der Unabhängigkeit gilt nach ökonomischen Modellen die Unternehmensgröße (DeAngelo, 1981).
4. Risikoanalyse
Für Wirtschaftsprüfungsgesellschaften ist durch zunehmende Globalisierung der Tätigkeit, Entwicklungen rechtlicher Rahmenbedingungen, Größe der Mandanten und die Konkurrenz der Wettbewerber die Beschäftigung mit dem Risiko immer dringlicher geworden.
Die Globalisierungstendenzen führen zu Großorganisationen mit Problemen der Unternehmenssteuerung und Risikobewältigung. Wesentliche Risikokomponenten sind das allgemeine Geschäftsrisiko sowie besondere Auftrags- und Haftungsrisiken.
Durch Gesetzesänderungen werden Wirtschaftsprüfer gezwungen, sich mit bei Mandanten vorzufindenden Risikomanagementsystemen auseinanderzusetzen und deren Wirksamkeit einzuschätzen (§ 317 IV HGB i.V.m. § 91 II AktG). Ferner haben sie den Lagebericht der Abschlussersteller im Hinblick auf die richtige Abbildung künftiger Entwicklungen zu testieren (§ 317 II HGB).
Die Größe der Mandanten und der Zeitdruck bei der Ermittlung des Prüfungsergebnisses erlauben keine Vollprüfungen. Der Prüfungsansatz hat sich von der Ergebnis- zu der Systemprüfung verlagert. Ausgehend vom risikotheoretischen Prüfungsansatz, in dem Wahrscheinlichkeiten, bestimmte Fehler zu begehen, mathematisch miteinander verknüpft wurden (zum Überblick Ballwieser, 1998), finden risikogestützte Informationsbesorgungen, -auswertungen und -verarbeitungen statt. Die Perspektive wird heute im Zusammenhang mit der erwähnten Notwendigkeit, die Existenz und Wirksamkeit von Risikomanagementsystemen in Unternehmen beurteilen zu müssen, ausgeweitet.
Durch Wettbewerbsprozesse müssen Wirtschaftsprüfungsgesellschaften zunehmend auf die Sicherung ihrer Reputation bedacht sein. Um diese nicht zu gefährden, sind Risikofrüherkennung und -bewältigung notwendig. Theoretische Arbeiten bestätigen, dass die Entscheidung über die Annahme von Mandaten an Bedeutung gewinnt (Bockus, /Gigler, 1998; Wells, /Loudder, 1997).
V. Fazit
Während in früheren Jahrzehnten die Beschäftigung mit definitorischen und technologischen Komponenten des Prüfungsprozesses (wie Prüfungsarten, Prüfungsinstrumente, Optimierung von Stichprobenprüfungen, Einbezug von EDV-Systemen, Übergang von der Ergebnis- zur Systemprüfung) dominierte, hat sich heute die Perspektive auf funktionale und institutionelle Fragestellungen verlagert. Zwar wurden institutionelle Fragen auch schon früher behandelt; hierbei lag der Schwerpunkt aber eher auf deren Beschreibung. Die neueren Ansätze rekonstruieren die Prüfungsinstitutionen ökonomisch (neoinstitutionalistischer Ansatz) und analysieren deren Funktionsgerechtigkeit und Anreizwirkungen. Ferner beschäftigen sie sich stärker als früher mit Prüfungsgesellschaften, ihrer Organisation und ihren Anreizmechanismen. Fragen des Prüfungsprozesses werden nicht etwa ausgegrenzt, sondern, z.B. mit dem risikoorientierten Prüfungsansatz, neu behandelt.
Neben einer Ausweitung von Modellanalysen (Ewert, 1999) sind gerade in Deutschland verstärkt empirische Untersuchungen zu Prüfungsphänomenen (Richter, M. 1997) zu beobachten.
Literatur:
Antle, R./Griffin, P. A./Teece, D. J. : An Economic Analysis of Auditor Independence for a Multi-Client, Multi-Service Public Accounting Firm, A Report Prepared on Behalf of the AICPA in Connection with the Presentation to the Independence Standard Board of „ Serving the Public Interest: A New Conceptual Framework for Auditor Independence “ , o.O. 1997
Arrunada, B. : The Economics of Audit Quality, Boston u.a. 1999
Ballwieser, W. : Was leistet der risikoorientierte Prüfungsansatz?, in: Unternehmensberatung und Wirtschaftsprüfung, Festschrift für G. Sieben, hrsg. v. Matschke, M. J./Schildbach, T., Stuttgart 1998, S. 359 – 374
Ballwieser, W. : Die Unabhängigkeit des Wirtschaftsprüfers, in: Der Wirtschaftsprüfer als Element der Corporate Governance, hrsg. v. Lutter, M., Düsseldorf 2001, S. 99 – 115
Böcking, H.-J./Löcke, J. : Abschlußprüfung und Beratung, in: DBW 1997, S. 461 – 474
Bockus, K./Gigler, F. : A Theory of Auditor Resignation, in: Journal of Accounting Research 1998, S. 191 – 208
DeAngelo, L. E. : Auditor Size and Audit Quality, Journal of Accounting and Economics 1981, S. 183 – 199
Doll, R. : Wahrnehmung und Signalisierung von Prüfungsqualität, Frankfurt a.M. 2000
Dye, R. A. : Auditing Standards, Legal Liability, and Auditor Wealth, in: Journal of Political Economy 1993, S. 887 – 914
Ewert, R. : Wirtschaftsprüfung und asymmetrische Information, Berlin u.a. 1990
Ewert, R. : Rechnungslegung, Wirtschaftsprüfung, rationale Akteure und Märkte, in: ZfbF 1993, S. 715 – 747
Ewert, R. : Wirtschaftsprüfung und ökonomische Theorie, in: Theorie und Praxis der Wirtschaftsprüfung II, hrsg. v. Richter, M., Berlin 1999, S. 35 – 99
Frantz, P. : Auditor\'s Skill, Auditing Standards, Litigation, and Audit Quality, in: British Accounting Review 1999, S. 151 – 183
Grant, J./Bricker, R./Shiptsova, R. : Audit Quality and Professional Self-Regulation: A Social Dilemma Perspective and Laboratory Investigation, in: Auditing, A Journal of Practice & Theory 1996, S. 142 – 156
Hachmeister, D. : Wirtschaftsprüfungsgesellschaften im Prüfungsmarkt, Stuttgart 2001
Herrmann, E. : Ökonomische Analyse der Haftung des Wirtschaftsprüfers, Frankfurt a.M. 1997
Humphrey, C./Moizer, P./Turley, S. : The Audit Expectation Gap in Britain, in: Accounting and Business Research 1993, S. 395 – 411
Lange, S. : Die Kompatibilität von Abschlußprüfung und Beratung, Frankfurt a.M. u.a. 1994
Marten, K.-U. : Qualität von Wirtschaftsprüferleistungen, Düsseldorf 1999
Porter, B. : An Empirical Study of the Audit Expectation-Performance Gap, in: Accounting and Business Research 1993, S. 49 – 68
Richter, M. : Empirische Untersuchungen in der deutschsprachigen Prüfungslehre, in: Theorie und Praxis der Wirtschaftsprüfung, Abschlussprüfung – Interne Revision – kommunale Rechnungsprüfung, hrsg. v. Richter, M., Berlin 1997, S. 249 – 300
Sutton, J. : Sunk Costs and Market Structure, Cambridge (Mass.) u.a. 1991
Thoman, L. : Legal Damages and Auditor Effort, in: Contemporary Accounting Research 1996, S. 275 – 306
Watts, R. L./Zimmerman, J. L. : Positive Accounting Theory, New Jersey u.a. 1986
Weißenberger, B. E. : Ökonomische Analyse des Prüferwechsels, in: Reform des Aktienrechts, der Rechnungslegung und Prüfung, hrsg. v. Dörner, D./Menold, D./Pfitzer, N., Stuttgart 1999, S. 617 – 647
Wells, D. W./Loudder, M. L. : The Market Effects of Auditor Resignation, in: Auditing, A Journal of Practice & Theory 1997, S. 138 – 144
Wild, J. : Theorienbildung, betriebswirtschaftliche, in: Handwörterbuch der Betriebswirtschaft, hrsg. v. Grochla, E./Wittmann, W., Stuttgart 1976, Sp. 3889 – 3910
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