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Mikropolitik


Inhaltsübersicht
I. Begriff und Verständnis von Mikropolitik
II. Organisationale Machtbeziehungen und Machtstrategien
III. Organisationale Machtspiele und Machtinstitutionalisierung
IV. Kritik, Erweiterungen und Anwendungen des mikropolitischen Ansatzes

I. Begriff und Verständnis von Mikropolitik


Der Begriff „ Mikropolitik “ ( „ micropolitics “ ) wurde Anfang der 1960er-Jahre von Burns (Burns, Tom 1962) in die Debatte eingebracht, im deutschen Sprachraum zunächst durch Beiträge von Bosetzky (Bosetzky, Horst 1977) verbreitet und Mitte der 1980er-Jahre von Küpper und Ortmann unter Bezug auf die Strategische Organisationsanalyse von Crozier und Friedberg (Crozier, Michel/Friedberg, Erhard 1979) zur Markierung eines umfassenden Forschungsansatzes in die betriebswirtschaftliche Diskussion eingeführt (vgl. Küpper, Willi/Ortmann, Günther 1986; Küpper, Willi/Ortmann, Günther 1992; Ortmann, Günther et al. 1990; Ortmann, Günther 1995; vgl. auch den Überblick bei Alt, Ramona 2001 und Heinrich, Peter/Schulz zur Wiesch, Jochen 1998).
Zur Klärung des Begriffs „ Mikropolitik “ ist es hilfreich, zwischen einem aspektualen und einem konzeptualen Verständnis zu unterscheiden. Beim aspektualen Verständnis wird auf einen bestimmten Typ organisationalen Handelns fokussiert, der sich durch den Einsatz sog. mikropolitischer Techniken auszeichnet. Beispiele für solche Techniken sind Informationsverfälschung, Vernichtung von Unterlagen, Falschablagen, Erschweren oder Kappen von Kommunikationsmöglichkeiten, Anschwärzen, Intrigieren, Platzierung von Spitzeln, Geltendmachung von Besitzständen, Ausdehnung von Regeln, Bildung verdeckter Koalitionen, Pflege von Geheimzirkeln, Bildung von Seilschaften und Promotionsbündnissen, Selbstinszenierung, Schwejkismus, Sabotage, Emotionalisierung, Schikanierung (vgl. Neuberger, Oswald 1995, S. 124 ff.). Der geschickte Umgang mit solchen „ Mikro-Techniken “ wird meist mit einem bestimmten Persönlichkeitstyp (dem Mikropolitiker) in Verbindung gebracht, der in Organisationen auch gegen den Widerstand anderer Organisationsmitglieder in machiavellistischer Manier „ seine Politik “ betreibt, um in egoistischer Absicht Vorteile zu erringen (zu einer solchen Typologie vgl. Bosetzky, Horst 1992). Aus der Systemperspektive erscheint Mikropolitik hiernach als eine Art konspiratives Phänomen und potenzielle Störgröße, die z.T. die formalstrukturelle Handlungssteuerung (z.B. mittels Regeln, Plänen, positionaler Weisungsautorität) unterläuft (vgl. Ackroyd, Stephen/Thompson, Paul 1999).
Im konzeptualen Verständnis wird mikropolitisches Handeln nicht als spezifische, temporäre und isolierbare Kategorie interaktiven Handelns begriffen, sondern alles organisationale Handeln wird als interessengeleitetes, politisches Handeln gefasst. Damit sind sowohl offizielle unternehmenspolitische Entscheidungen als auch alle Handlungen im Gefolge der Umsetzung der Unternehmenspolitik sowie sämtliche Aktivitäten, die auf welche Weise auch immer dieser Politik widersprechen, als mikropolitisches Handeln zu interpretieren. Dieses Handeln macht in dem Deutungsrahmen der jeweils involvierten Akteure dadurch Sinn, dass keine bessere Handlungsalternative für die Verfolgung der eigenen Interessen aktiviert werden kann. Für organisationale Handlungssituationen sind Handlungsinterdependenzen und hieraus folgende strategische Unsicherheiten konstitutiv, d.h. die Abhängigkeit der Handlungsmöglichkeiten und Handlungsergebnisse eines Akteurs von den Handlungen anderer Akteure, die zwar nicht zufällig, aber ex ante unbestimmt sind. Im konzeptualen Verständnis von Mikropolitik wird der traditionelle Dualismus von Handlung und Struktur zugunsten der Dualität von Strukturen aufgegeben: Strukturen sind zugleich Ergebnis und Medium des Handelns; sie ermöglichen und beschränken Handlungen, die ihrerseits Strukturen reproduzieren oder verändern. Interaktives organisationales Handeln ist stets kontingent, d.h. abhängig vom (macht-)strukturierten Kontext (den vorhandenen Möglichkeiten, Ressourcen und Zwängen) und zugleich autonom. Strukturen werden nicht außerhalb von Handlungskontexten gedacht; sie werden im mikropolitischen Handeln generiert, reproduziert und modifiziert. In diesem Sinne ist der mikropolitische Ansatz ein um die Systemperspektive erweiterter handlungstheoretischer Ansatz, der konsequent von der Perspektive Interessen verfolgender Akteure ausgeht, um das Organisationsgeschehen als Gesamtheit von Struktur und Handlung verknüpfender Prozesse zu erklären. In diesen Prozessen erzeugen, nutzen und sichern Akteure Machtquellen, um ihre Autonomiezonen aufrechtzuerhalten bzw. zu erweitern; zugleich wird hierdurch kollektives Handeln ermöglicht und reguliert (vgl. Brüggemeier, Martin/Felsch, Anke 1992, S. 135; Felsch, Anke/Brüggemeier, Martin 1998, S. 348 f.; zur Umsetzung des konzeptualen Verständnisses vgl. Brüggemeier, Martin 1998; Hahne, Anton 1998; Haunschild, Axel 1998).
Demgegenüber kann das aspektuale Verständnis von Mikropolitik mit seinen eigenschaftstheoretischen Implikationen und dem Rekurs auf informelles Handeln nicht systematisch klären, ob und wie Mikropolitik auf formale Strukturen bzw. Steuerungsinstrumente zurückgreift und zurückwirkt. In einem eigenständigen organisationstheoretischen Konzept von Mikropolitik müssen jedoch die Konstitutionsverhältnisse zwischen der Mikroebene des Handelns und der Makroebene (Gruppen, Organisationen, Netzwerke) thematisiert werden können. Deshalb wird im Folgenden an das konzeptuale Verständnis von Mikropolitik angeknüpft.

II. Organisationale Machtbeziehungen und Machtstrategien


Das organisationstheoretische Konzept der Mikropolitik geht von der Annahme aus, dass jedes Handeln von Akteuren in, für oder mit Bezug auf Organisationen stets auch ein Handeln unter Beachtung und in Verfolgung eigener Interessen ist. Damit tritt im Kontext organisationaler Interaktionssituationen unweigerlich Macht als ein „ normales “ , allen zwischenmenschlichen Beziehungen immanentes Phänomen in Erscheinung (vgl. Friedberg, Erhard 1992, S. 40 f.). Im Sinne eines relationalen Machtbegriffes wird Macht als soziales Konstrukt verstanden, das als Dimension sozialer Beziehungen interessenorientierte, gegenseitig aufeinander bezogene Handlungsbereitschaften konstituiert und deren Umsetzung in konkretes Handeln verstehbar macht. Die Dynamik einer Machtbeziehung wird durch das Zusammentreffen von strategischer Aufklärung und strategischer Überzeugung bestimmt: im ersten Fall versucht ein Akteur fortlaufend zu überprüfen, ob seine Interessen durch das Verhalten des anderen in einer Weise verwirklicht werden, wie er es mit Bezug auf sein eigenes Verhaltensangebot ursprünglich erwartet hatte; im zweiten Fall versucht ein Akteur den anderen durch sein eigenes Verhalten davon zu überzeugen, dass dessen Interessen erwartungsgemäß verwirklicht werden. Die genannten Aktivitäten (z.B. in Form von Versprechungen, Empfehlungen, Drohungen und Warnungen), die der Entstehung, Aufrechterhaltung oder auch Beendigung von Machtbeziehungen dienen, können als Machtstrategien bezeichnet werden.
Die organisationale Macht von Akteuren beruht auf ihrer je unterschiedlichen Fähigkeit, organisationale Formal-, Ressourcen- und Informationsstrukturen zur Kontrolle der Handlungen anderer Akteure einzusetzen. Je größer die relationale organisationale Macht eines Akteurs ist, umso mehr kann er die auf sein eigenes Handeln bezogenen Handlungen anderer Akteure vorherbestimmen und gleichzeitig sein eigenes Handeln für diese anderen Akteure unbestimmt und offen halten. Machtstrategien lassen sich in diesem Sinne stets als Bewältigung oder Handhabung (als Kontrolle) von organisationalen Unsicherheitszonen deuten, die für die Beteiligten von Interesse sind. Wichtige organisationale Unsicherheitszonen, an denen man sich bei dem schwierigen Versuch der Aufdeckung organisationaler Machtverhältnisse orientieren kann, bestehen in Bezug auf

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den für das zufrieden stellende Funktionieren einer Organisation erforderlichen Sachverstand in der Umgebung relevanter Experten (Expertenmacht),

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Kenntnisse und Fähigkeiten, die für die Gestaltung der Beziehungen zwischen Organisation und Umwelt erforderlich sind (Sonderfall der Expertenmacht),

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das Verhalten der Akteure an wichtigen Knotenpunkten der Interaktion und Kommunikation zwischen organisationalen Einheiten,

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Vorschriften und Verfahren, die ursprünglich geschaffen wurden, um das Verhalten von Organisationsmitgliedern vorhersehbar zu machen.


Der letzte Punkt verdeutlicht die in jeder Machtbeziehung verborgene Ambivalenz. Soweit durch den Dienst nach Vorschrift das normale Funktionieren einer Organisation gefährdet ist, sind Vorgesetzte darauf angewiesen, selektiv – manchmal fast regelmäßig – die Verletzung von Regeln und Verfahren bzgl. der Nutzung organisationaler Ressourcen zu tolerieren (vgl. auch Ortmann, Günther 2003a). Zu einer der wesentlichen Aufgaben der mikropolitischen Organisationsanalyse gehört es, derartige Verhaltensstrukturen, d.h. die im konkreten Handlungssystem tatsächlich wirksamen (umgesetzten oder angewandten), von den Beteiligten akzeptierten Handlungs- und Verhaltensregeln (das operative Regelsystem) verständlich zu machen. Dies erfordert u.a. ein sinnvolles In-Beziehung-Setzen der Verhaltensstruktur mit der Formalstruktur, d.h. mit denjenigen Handlungs- und Verhaltensregeln, die Akteure bei ihren Interaktionen als gültig voraussetzen bzw. auf deren Gültigkeit sie sich berufen. Verhaltens- und Formalstrukturen kommen nur aufgrund der Deutungsleistungen der Akteure zustande; sie existieren also – wie Ressourcen (vgl. Ortmann, Günther 2003b, S. 184 – 209) – durch Informationen und Kommunikationen der Akteure.
Der dritte Punkt verdient besondere Beachtung hinsichtlich der an den Knotenpunkten organisationaler Interaktion und Kommunikation angesiedelten Integrator- und Maklermacht, die von Formen der Expertenmacht (s. die Punkte 1 u. 2) zu unterscheiden ist (vgl. Küpper, Willi/Felsch, Anke 2000, S. 160 ff.). Integratormacht kann durch die Förderung von Gruppenbildungsprozessen an den Schnittstellen von Kooperationsbeziehungen aufgebaut werden (Macht des Linien- und Projektmanagements, von Organisations- und Personalabteilungen). Maklermacht lässt sich durch Herstellung befriedigender Austauschbedingungen an den Schnittstellen horizontaler und vertikaler Konkurrenzbeziehungen (Macht des höheren Linien-, Produkt- und Qualitätsmanagements, von Planungs- und Controllingabteilungen etc.) gewinnen.

III. Organisationale Machtspiele und Machtinstitutionalisierung


Um über Macht zu verfügen, muss man zumindest teilweise die Erwartungen der anderen erfüllen. Löst ein Organisationsmitglied keines der für seinen Aufgabenbereich und Sachverstand spezifischen Probleme, versiegt seine Machtquelle; löst es alle entsprechenden Probleme, wird sein Verhalten – mit derselben Wirkung  – vorhersehbar, kann dann also von anderen mit Sicherheit einkalkuliert werden. Die in der Dynamik von Machtbeziehungen sich wechselweise konstituierenden Abgrenzungen und Verschränkungen von Handlungsspielräumen lassen sich als Genese von impliziten Spielregeln deuten, die ein Spiel definieren, das die partielle und kontingente Integration der beteiligten Akteure sicherstellt. Machtspiele sind Ausdruck aufeinander bezogener Machtstrategien von Akteuren, in denen je nach Machtverteilung durch Austausch von Kontrollmöglichkeiten die Handlungen der Beteiligten kanalisiert werden (vgl. den Überblick über mikropolitische Spiele bei Mintzberg, Henry 1983, S. 187 ff.; Mintzberg, Henry 1991, S. 245 ff.). Spielstrukturen, also diejenigen operativen Regeln der Verhaltensstruktur eines Handlungssystems, die sich in den Machtbeziehungen durch Konsens der beteiligten Akteure herausgebildet haben, sind Ausdruck der inneren Machtverhältnisse einer Organisation. Sie entscheiden darüber, inwieweit die Verhaltensstrukturen und die sie beeinflussenden Formal-, Ressourcen- und Informationsstrukturen im organisationalen Handeln reproduziert und verändert werden. Organisationale Routinen als Ausdruck verfestigter Verhaltensstrukturen können unter Bezugnahme auf organisationsübergreifende äußere Machtverhältnisse und kumulative Prozesse der Machtinstitutionalisierung gedeutet werden, in denen die Externalisierung von Zielen und Zwecken in den Formal-, Ressourcen- und Informationsstrukturen von Organisationen und hierdurch bedingte externe Effekte der Entscheidungen und Handlungen von Akteuren eine herausragende Rolle spielen (vgl. im Einzelnen Küpper, Willi/Felsch, Anke 2000, S. 37 ff.). Diese Prozesse sind ohne ein Verständnis der Rekursivität zwischen Handlung und Struktur bzw. der Dualität von Struktur (vgl. Giddens, Anthony 1988) nicht hinreichend verstehbar; eine Dualität, die unter bestimmten Bedingungen eine spezifische Systemrationalität zeitigt, in der sich Interessen-, Qualifikations- und Ressourcenstrukturen wechselweise verschränken, verstärken und verfestigen.

IV. Kritik, Erweiterungen und Anwendungen des mikropolitischen Ansatzes


Der mikropolitische Ansatz entfaltet dort seine Stärken, wo es um die empirisch fundierte Analyse der Organisationsdynamik im Sinne eines spannungsgeladenen, konfliktreichen Wechselspiels von Stabilität und Wandel von Organisationen geht. Im Unterschied zu evolutionstheoretischen Ansätzen (zu Grundfragen institutionellen und organisationalen Wandels vgl. Küpper, Willi/Felsch, Anke 1999; 2000, S. 332 ff.) soll hiermit eine historisch-kontingente Analyse konkreter Handlungssysteme angeleitet werden, die den je spezifischen Handlungs- und Interaktionsprozessen individueller und kollektiver Akteure besondere Aufmerksamkeit widmet. Zur Interpretation dieser Prozesse wird soweit wie möglich auf intentionale Deutungsleistungen der involvierten Akteure zurückgegriffen, die zumindest im originären (neo-darwinistischen) evolutionstheoretischen Paradigma eher als bedeutungslos eingestuft werden (vgl. aber Aldrich, Howard 1999, der seinen „ evolutionary approach “ mit interpretativen und institutionalistischen Ansätzen verbindet).
Die auf Handlungsprozesse, Handlungsspielräume und soziale (Macht-)Beziehungen rekurrierende interaktionstheoretische Perspektive des mikropolitischen Ansatzes ist von der Rational-Choice-Perspektive (vgl. Petermann, Sören 2001) institutionenökonomischer Ansätze zu unterscheiden. Letztere Ansätze basieren auf den Annahmen des ökonomischen Verhaltensmodells, das durch Schließung des Handlungsspielraums eine quasi-kausale Analyse des Verhaltens erlaubt. Wie im älteren situativen Ansatz werden damit Handlungsinterdependenzen und Interaktionen auf einfache Kausalbeziehungen reduziert, was der potenziellen Offenheit von Organisationsentwicklungen keinen Raum lässt. Um die damit einhergehende statische Betrachtung (vgl. etwa die Gleichgewichtsanalysen der Spieltheorie) zu überwinden, benötigt der mikropolitische Ansatz ein allgemeineres Handlungsmodell, das die strukturations- oder konstitutionstheoretische Verknüpfung zwischen Handlung und Struktur bereits auf der Mikro-Ebene des Handelns verortet. Wie Felsch (Felsch, Anke 1999, S. 137 ff.) gezeigt hat, kann dies durch eine Verbindung des relationalen Machtkonzepts mit sozialpsychologischen Identitätskonstrukten erreicht werden, wobei im Rahmen einer allgemeinen pragmatistischen Handlungstheorie nicht nur den Konstitutionsverhältnissen zwischen Handlungssituationen und Präferenzen, sondern auch der kreativen Dimension des Handelns Rechnung getragen werden kann (vgl. Joas, Hans 1992; Küpper, Willi/Felsch, Anke 2000, S. 269 ff. und 299 ff.). Notwendige Erweiterungen des mikropolitischen Ansatzes betreffen v.a. auch die Möglichkeit, organisationale Gruppenbildungen (z.B. Arbeitsgruppen, Abteilungen, Unternehmen und Unternehmensnetzwerke) unter der Perspektive der Konstitution kollektiver Akteure zu betrachten (vgl. erste Überlegungen einer Übertragung der Rationalitäts- und Identitätskonstrukte von individuellen auf kollektive Akteure bei Felsch, Anke 2002).
Der mikropolitische Ansatz läuft stets Gefahr, durch eine einseitige voluntaristische Betrachtung organisationalen Handelns gesellschaftliche Strukturdimensionen und Zwänge (z.B. die Eigenlogik kapitalistischer Marktgesellschaften; vgl. Türk, Klaus 1997) aus den Augen zu verlieren. Auch ein konzeptuales konstitutionstheoretisches Verständnis von Mikropolitik liefert keinen Ersatz für Gesellschaftstheorien (vgl. Stapel, Wolfgang 2001). Es kann aber zu gesellschaftstheoretischen Reflexionen dadurch beitragen, dass die Wirkungen struktureller Formationen auf der Mikro-Ebene organisationalen Handelns in Form spezifischer, gesellschaftstypischer Interessen, Qualifikationen und Rationalitäten und hierauf basierender organisationaler Spielstrukturen sichtbar gemacht werden. Dies ist allerdings trotz einer Zunahme der vom mikropolitischen Ansatz geleiteten empirischen Studien selten der Fall (vgl. z.B. Birke, Martin 1992; Stegbauer, Christian 1995; Lorson, Heiko Nikolaus 1996; Alt, Ramona 1996; Riegraf, Birgit 1996; Zeman, Peter 2000; Berger-Klein, Andrea 2002). Dies könnte sich ändern, wenn der mikropolitische Ansatz ein verstärktes Interesse bei Politologen findet (vgl. Bogumil, Jörg 2001). Über die Organisationsforschung hinaus wurde die mikropolitische Forschungsperspektive bereits für die historische Theoriebildung in Anspruch genommen (vgl. Lauschke, Karl/Welskopp, Thomas 1994; Moerschel, Tobias 2002).
Unter einer engeren betriebswirtschaftlichen Anwendungsperspektive können mikropolitische Organisationsanalysen v.a. dazu beitragen, Praktiker zur Reflexion der eigenen Handlungspraxis anzuregen und damit ihre Handlungs- und Interaktionsfähigkeiten zu fördern. Eine erfahrungsgestützte Typisierung organisationaler Machtstrategien und Machtspiele kann die Bildung von Hypothesen zur Wirkung geplanter Strukturreformen erleichtern und durch fortlaufende qualitative Validierungen eine Prozesstheorie der Organisationsdynamik fundieren.
Literatur:
Ackroyd, Stephen/Thompson, Paul : Organizational Misbehaviour, London et al. 1999
Aldrich, Howard : Organizations Evolving, London et al. 1999
Alt, Ramona : Mikropolitik, in: Moderne Organisationstheorien. Eine sozialwissenschaftliche Einführung, hrsg. v. Weik, Elke/Lang, Rainhard, Wiesbaden 2001, S. 285 – 318
Alt, Ramona : Einführung von Informationssystemen in Umbruchsituationen. Eine mikropolitische und kulturorientierte Prozeßanalyse in ostdeutschen Industrieunternehmen, Mering et al. 1996
Berger-Klein, Andrea : Mikropolitik im Rundfunk: Programm- und Strukturreformen bei NDR 90,3 (Hamburg-Welle), Münster 2002
Birke, Martin : Betriebliche Technikgestaltung und Interessenvertretung als Mikropolitik: Fallstudien zum arbeitspolitischen Umbruch, Wiesbaden 1992
Bogumil, Jörg : Politik in Organisationen: organisationstheoretische Ansätze und praxisbezogene Anwendungsbeispiele, Opladen 2001
Bosetzky, Horst : Mikropolitik, Machiavellismus und Machtkumulation, in: Mikropolitik, hrsg. v. Küpper, Willi/Ortmann, Günther, 2. A., Opladen 1992, S. 27 – 37
Bosetzky, Horst : Machiavellismus, Machtkumulation und Mikropolitik, in: ZFO, Jg. 46, 1977, S. 121 – 125
Brüggemeier, Martin : Controlling in der Öffentlichen Verwaltung, 3. A., München et al. 1998
Brüggemeier, Martin/Felsch, Anke : Mikropolitik, in: DBW, Jg. 52, 1992, S. 133 – 136
Burns, Tom : Micropolitics: Mechanisms of Institutional Change, in: ASQ, Jg. 6, 1962, S. 257 – 281
Crozier, Michel/Friedberg, Erhard : Macht und Organisation, Königstein 1979
Felsch, Anke : Organisationen als Akteure – Individuelle und kollektive Identitäten und Rationalitäten, Diskussionsbeiträge der Professur für Allgemeine Betriebswirtschaftslehre, Universität der Bundeswehr Hamburg, März 2002
Felsch, Anke : Personalentwicklung und Organisationales Lernen. Mikropolitische Perspektiven zur theoretischen Grundlegung, 2. A., Berlin 1999
Felsch, Anke/Brüggemeier, Martin : Mikropolitik, in: Psychologische Grundbegriffe. Ein Handbuch, hrsg. v. Grubitzsch, Siegfried/Weber, Klaus, Hamburg 1998, S. 348 – 349
Friedberg, Erhard : Zur Politologie von Organisationen, in: Mikropolitik, hrsg. v. Küpper, Willi/Ortmann, Günther, 2. A., Opladen 1992, S. 39 – 52
Giddens, Anthony : Die Konstitution der Gesellschaft. Grundzüge einer Theorie der Strukturierung, Frankfurt am Main et al. 1988
Hahne, Anton : Kommunikation in der Organisation. Grundlagen und Analyse – ein kritischer Überblick, Wiesbaden 1998
Haunschild, Axel : Koordination und Steuerung der Personalarbeit, Hamburg 1998
Heinrich, Peter/Schulz zur Wiesch, Jochen : Wörterbuch der Mikropolitik, Opladen 1998
Joas, Hans : Die Kreativität des Handelns, Frankfurt am Main 1992
Küpper, Willi/Felsch, Anke : Organisation, Macht und Ökonomie. Mikropolitik und die Konstitution organisationaler Handlungssysteme, Wiesbaden 2000
Küpper, Willi/Felsch, Anke : Wissenschaftstheoretische Grundfragen einer Theorie der Organisationsdynamik, Diskussionspapier Nr. 1/1999 des Arbeitsbereichs Personalwirtschaftslehre am Fachbereich Wirtschaftswissenschaften der Universität Hamburg 1999
Küpper, Willi/Ortmann, Günther : Mikropolitik. Rationalität, Macht und Spiele in Organisationen, 2. A., Opladen 1992
Küpper, Willi/Ortmann, Günther : Mikropolitik in Oranisationen, in: DBW, Jg. 46, 1986, S. 590 – 602
Lauschke, Karl/Welskopp, Thomas : Mikropolitik im Unternehmen. Arbeitsbeziehungen und Machtstrukturen in industriellen Großbetrieben des 20. Jahrhunderts, Bochumer Schriften zur Unternehmens- und Industriegeschichte, Bd. 3, Essen 1994
Lorson, Heiko Nikolaus : Mikropolitik und Leistungsbeurteilung: Diskussion mikropolitischer Aspekte am Beispiel merkmalsorientierter Einstufungsverfahren, Bergisch Gladbach et al. 1996
Mintzberg, Henry : Mintzberg über Management: Führung und Organisation, Mythos und Realität, Wiesbaden 1991
Mintzberg, Henry : Power in and Around Organizations, Englewood Cliffs NJ 1983
Moerschel, Tobias : Buona amicitia?: Die römisch-savoyischen Beziehungen unter Paul V. (1605 – 1621). Studien zur frühneuzeitlichen Mikropolitik in Italien, Mainz 2002
Neuberger, Oswald : Mikropolitik. Der alltägliche Aufbau und Einsatz von Macht in Organisationen, Stuttgart 1995
Ortmann, Günther : Regel und Ausnahme. Paradoxien sozialer Ordnung, Frankfurt am Main 2003a
Ortmann, Günther : Organisation und Welterschließung. Dekonstruktionen, Opladen 2003b
Ortmann, Günther : Formen der Produktion. Organisation und Rekursivität, Opladen 1995
Ortmann, Günther : Computer und Macht in Organisationen. Mikropolitische Analysen, Opladen 1990
Petermann, Sören : Der Rational-Choice-Ansatz, in: Moderne Organisationstheorien. Eine sozialwissenschaftliche Einführung, hrsg. v. Weik, Elke/Lang, Rainhart, Wiesbaden 2001, S. 61 – 90
Riegraf, Birgit : Geschlecht und Mikropolitik: das Beispiel betrieblicher Gleichstellung, Opladen 1996
Stapel, Wolfgang : Mikropolitik als Gesellschaftstheorie? Zur Kritik einer aktuellen Variante des mikropolitischen Ansatzes, Berlin 2001
Stegbauer, Christian : Mikropolitik und soziale Integration von Kommunikationsmedien, Göttingen 1995
Türk, Klaus : Organisation als Institution der kapitalistischen Gesellschaftsformation, in: Theorien der Organisation. Die Rückkehr der Gesellschaft, hrsg. v. Ortmann, Günther/Sydow, Jörg/Türk, Klaus, Opladen 1997, S. 124 – 176
Zeman, Peter : Alter(n) im Sozialstaat und die Mikropolitik der Pflege, Regensburg 2000

 

 


 

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