Tarifverhandlungen
Inhaltsübersicht
I. Historische Entwicklung
II. Vielfalt von Tarifverhandlungsstrukturen
III. Allgemeine Verhandlungstheorien
IV. Tarifverhandlungen in Deutschland
I. Historische Entwicklung
Aus Sicht der Arbeitnehmer haben Tarifverhandlungen zwischen Gewerkschaften und einzelnen Arbeitgebern oder Arbeitgeberorganisationen zum Ziel, in einem Kollektivvertrag bessere Arbeitsbedingungen zu vereinbaren als durch Individualverhandlungen und Individualverträge erreicht werden können. Wesentliche Bedingungen für erfolgreiche Tarifverhandlungen i.d.S. sind die Anerkennung der Gewerkschaften von Arbeitgebern und Gesetzgebung als Tarifvertragspartei und die rechtliche Zulässigkeit von Streiks, auf denen als Druckmittel im Wesentlichen die Verhandlungsmacht der Gewerkschaften beruht. Beides musste sich die Arbeiterschaft in der frühkapitalistischen Industrialisierungsphase häufig gegen großen Widerstand von Arbeitgebern und staatliche Repression erkämpfen (Zachert, 1979, S. 70 ff.; Getman, /Blackburn, 1983, S. 1 – 30).
Heute ist das Recht, Organisationen zur Wahrnehmung von Arbeits- und Wirtschaftsinteressen zu bilden, Arbeitskämpfe zu führen und kollektive Arbeitsverträge abzuschließen Kennzeichen aller demokratisch verfassten Gesellschaften. In der konkreten Ausgestaltung dieser Rechte bestehen jedoch erhebliche Unterschiede.
II. Vielfalt von Tarifverhandlungsstrukturen
Gegenstand und Verlauf von Tarifverhandlungen können von Staat zu Staat, aber auch innerhalb eines Staates höchst unterschiedlich sein. Darauf nehmen u.a. die folgenden Bedingungen Einfluss.
1. Rechtliche Rahmenbedingungen
Die Verhandlungsparteien können große Freiheiten hinsichtlich der Verhandlungsinhalte und des Verhandlungsverlaufs haben. Der Staat kann aber auch ermächtigt sein, Lohnleitlinien zu erlassen (wie z.B. in Belgien). Es können Rechtsvorschriften darüber bestehen, ob und unter welchen Bedingungen Verhandlungsverpflichtungen für Arbeitgeber (z.B. in den USA) oder die Tarifparteien (z.B. in Frankreich) bestehen, welche Gewerkschaft bei konkurrierenden Gewerkschaften für die Arbeitnehmer verhandeln darf (in den USA z.B. die von Arbeitnehmern in einem Unternehmen mit Mehrheit gewählte), auf welchen Ebenen die Tarifverhandlungen zu führen sind, unter welchen Bedingungen Arbeitskampfmittel eingesetzt werden dürfen, etc.
Für den Organisationsgrad und damit die Verhandlungsmacht der Gewerkschaften ist ferner relevant, ob z.B. Nichtmitglieder von Gewerkschaften von tariflichen Leistungen ausgeschlossen (diskriminiert) werden dürfen, ob closed shop Regelungen erlaubt sind, nach denen nur Gewerkschaftsmitglieder eingestellt werden dürfen oder ob im Interesse von Berufsgruppen bestimmte Tätigkeiten nur ihnen vorbehalten werden können (demarcations) (Revel, 1994, S. 53).
2. Staatliche Regelungen von Arbeitsbedingungen
Bei umfassenden staatlichen Regelungen von Arbeitsbedingungen können die Tarifparteien auf weitergehende Tarifvereinbarungen verzichten oder sich auf Ergänzungen beschränken. Das gilt in Deutschland z.B. – anders als in den USA – für die berufliche Bildung und die soziale Sicherung. Durch gesetzliche Vorschriften wie z.B. zur Förderung der Vermögensbildung oder der privaten Altersvorsorge können aber auch neue Tatbestände für tarifvertragliche Verhandlungen generiert werden.
3. Organisationsstrukturen der Verhandlungsparteien
Gewerkschaften können als Berufs-, Betriebs- oder Wirtschaftszweig- (Branchen-)Gewerkschaften organisiert sein. Je spezifischer die gewerkschaftlich organisierten Interessen sind, desto weniger müssen gesamtwirtschaftliche und gesamtgesellschaftliche Implikationen in den Verhandlungen berücksichtigt werden. Bei Berufsgewerkschaften kann die Tendenz bestehen, ohne Rücksicht auf die Folgen für andere Arbeitnehmer und die Betriebe, möglichst vorteilhafte Arbeitsbedingungen für die eigene Berufsgruppe auszuhandeln. Werden die Arbeitnehmer von verschiedenen Gewerkschaften organisiert, kann dieses zu einer Tarifkonkurrenz führen und die Tarifverhandlungen komplizieren. Parteipolitisch ausgerichtete Gewerkschaften können versucht sein, die ihnen nahe stehenden Parteien bzw. Regierungen durch ihre Tarifpolitik zu unterstützen.
Die Arbeitgeber organisieren sich i.A. nach Branchen, ggf. noch regional differenziert.
4. Verhandlungsmacht
Die Verhandlungsmacht der Gewerkschaften beruht weitgehend auf deren Streikfähigkeit. Ein wesentlicher Faktor dafür ist der Organisationsgrad der Arbeitnehmer. Traditionell hoch ist er unter den Arbeitern in den alten industriellen Ballungsgebieten und in Großbetrieben und häufig auch im Öffentlichen Dienst. Durch Schrumpfung des industriellen Sektors in den entwickelten Wirtschaftsgesellschaften verlieren jedoch diejenigen Wirtschaftszweige an Bedeutung, in denen die Gewerkschaften einen hohen Organisationsgrad aufweisen. Eine Ausnahme bildet Skandinavien mit hohen, z.T. noch gestiegenen durchschnittlichen Organisationsgraden von ca. 80 – 90% (1995) (Norwegen ca. 50%), weil die Gewerkschaften dort u.a. noch die Arbeitslosenunterstützungskasse verwalten (Ausnahme: Norwegen) (Dolvik, 1994, S. 299).
Die Streikfähigkeit wird ferner durch sinkende Mitgliederzahlen und die dadurch reduzierte Finanzkraft geschwächt. Dem wird z.T. durch Gewerkschaftsfusionen entgegengewirkt.
Der Organisationsgrad der Arbeitgeberverbände ist in Europa vergleichsweise hoch (Kröll, /Supernok, /Scherer, 1993, S. 8 ff.). Gründe hierfür sind u.a. eine große Branchendifferenzierung, die die Anzahl der zu organisierenden Arbeitgeber erheblich reduziert, die Vorteile, die auf den Gebieten der Verhandlungs- und Arbeitskampfkosten und des Arbeitsfriedens durch Verhandlungen auf Verbandsebene gegenüber Verhandlungen auf Unternehmensebene erzielt werden können und das Ziel der Schaffung einheitlicher Wettbewerbsbedingungen. Finanzprobleme spielen bei den Arbeitgeberverbänden anscheinend eine geringere Rolle.
5. Wirtschaftliche Lage
In wirtschaftlich guten Situationen sind die Arbeitgeber im Allgemeinen kompromissbereiter als in schlechten, weil streikbedingte Liefer- bzw. Leistungsausfälle mit erheblichen Gewinneinbußen verbunden sein können.
Unabhängig von der Konjunkturlage neigen Arbeitgeber eher zu Kompromissen, wenn sie befürchten, durch streikbedingte Lieferausfälle Auslandsmärkte zu verlieren, wenn ein Arbeitskräftemangel auf dem betriebsrelevanten Arbeitsmarkt besteht oder der Lohnkostenanteil sehr gering ist. Mit entscheidend ist aber auch, welche Tarifpolitik die Gewerkschaften in diesen Situationen verfolgen.
6. Tarifverhandlungsebenen
Verhandlungen auf Betriebs- bzw. Unternehmensebene können zu erheblichen Differenzierungen der Tarife führen, wenn den Tarifabschlüssen die unterschiedliche Wirtschaftskraft der Unternehmen zu Grunde liegt. Mit Mustervereinbarungen (pattern bargaining), wie z.B. in den USA und Japan angewandt, können die Tarifparteien das verhindern. Der mit einem Unternehmen ausgehandelte Vertrag wird dann von den anderen Unternehmen übernommen.
Verhandlungen auf Branchenebene üben i.d.R. einen strukturellen Druck auf Gewerkschaften aus, ihre Verhandlungsziele je nach Entwicklung der Beschäftigung mehr an der durchschnittlichen Wirtschaftskraft oder der von den schwächeren Unternehmen auszurichten. In dem verhandelnden Arbeitgeberverband werden die leistungsstärkeren Unternehmen eher zu Tarifkompromissen bereit sein als die leistungsschwächeren. Je heterogener die Mitgliederinteressen im Verband sind, desto schwieriger werden die Konsensbildung und die Tarifverhandlungen.
Nationale, branchenübergreifende Tarifverhandlungen gibt es u.a. in Belgien, Island, Norwegen, Dänemark, Finnland. Z.T. wird dabei ein Rahmen für die nachfolgenden Verhandlungen auf Branchen- und/oder Unternehmensebene vereinbart. Nationale Tarifvereinbarungen berücksichtigen strukturell stärker die gesamtwirtschaftliche Lage und internationale Wettbewerbsfähigkeit (vgl. hierzu und zur Rolle des Staates dabei Schulten, 2001, S. 411 ff.)
7. Tarifpolitik
Die Verhandlungsziele der Gewerkschaften können von einer Einkommensumverteilungspolitik bis hin zu moderaten Lohnforderungen zur Sicherung der Beschäftigung und/oder Reduzierung des Preisauftriebs reichen. Entsprechend können die Arbeitgeberziele sich von der Einkommensumverteilung bis zur Förderung des betrieblichen Arbeitsfriedens und der Arbeitsmotivation durch Beteiligung der Mitarbeiter an dem Unternehmenserfolg erstrecken. Entscheidend ist dann die Konstellation der jeweiligen Tarifpolitik der Verhandlungspartner.
8. Tarifstruktur
Wenn erfolgsabhängige Lohnbestandteile relativ hoch sind, kann das die Auseinandersetzungen um die festen Einkommensanteile mildern. Die Ausdifferenzierung von weniger umstrittenen Inhalten kann ebenso konfliktmildernd wirken wie die Verhandlung von Paketlösungen aus Entgelttarifen und anderen kostenwirksamen Tarifen, wodurch für beide Parteien die Möglichkeiten erweitert werden, für sie wichtige Teilergebnisse als Verhandlungserfolg herauszustellen.
9. Gesellschaftliche Wertvorstellungen
Eine Kultur individueller Interessenwahrnehmung wie in den USA stärkt gewerkschaftsablehnende Haltungen, schwächt die Gewerkschaften und ihre Verhandlungsmacht. Bei starker Gemeinschafts- oder Konsensorientierung wie z.B. in Japan oder vielen west- und nordeuropäischen Staaten sind die Arbeitsbeziehungen von einer grundsätzlichen Anerkennung der Interessen der Gegenseite und dem Streben nach einem Ausgleich gekennzeichnet. Dabei kommt der Rücksichtnahme auf die öffentliche Meinung eine relativ hohe Bedeutung zu.
Aktuelle Tarifauseinandersetzungen können jedoch häufig nicht ohne Kenntnis der Geschichte der jeweiligen Arbeitsbeziehungen sowie der Persönlichkeitsstrukturen und beruflichen Ziele der Verhandlungsführer verstanden werden.
III. Allgemeine Verhandlungstheorien
Die skizzierten Einflussfaktoren auf die Tarifverhandlungen weisen in den einzelnen Tarifverhandlungssystemen ein großes Spektrum von Differenzierungen auf und stehen in vielfältigen Wechselbeziehungen zueinander.
Allgemeine Theorien, die Verlauf und Ergebnisse von Tarifverhandlungen zu erklären versuchen (collective-bargaining-Theorien) müssen in ihren Aussagen deshalb auch sehr abstrakt und allgemein bleiben oder für konkretere Aussagen realitätsfremde Reduzierungen bei den Einflussfaktoren vornehmen. Das gilt gleichermaßen für die dezisionistischen Verhandlungsmodelle, die an den Verhandlungsergebnissen interessiert sind, wie für die offenen Verhandlungsmodelle, die z.B. Phasen des Verhandlungsablaufs klassifizieren oder verschiedene Funktionen von Verhandlungen wie distributive bargaining, integrative bargaining, attitudinal structuring und intraorganizational bargaining unterscheiden (Düro, /Metz, 1993, S. 600 ff.).
Informativere generalisierende Aussagen lassen sich nur für spezifische Verhandlungssysteme einzelner Länder machen.
IV. Tarifverhandlungen in Deutschland
Die Tarifautonomie ist im Grundgesetz gewährleistet (Art. 9 Abs. 3 GG). Staatliche Eingriffe in die Tarifverhandlungen sind nicht zulässig.
Gegenstand von Tarifverhandlungen sind Arbeitsbedingungen (Inhalt, Abschluss und Beendigung von Arbeitsverhältnissen, betriebliche und betriebsverfassungsrechtliche Fragen) und die Beziehungen der Tarifparteien untereinander (§ 1 TVG). Zwar existieren eine Reihe gesetzlicher Regelungen zu den Arbeitsbedingungen (z.B. zu Arbeitsvertrag, Arbeitszeit, Arbeitsschutz, berufliche Ausbildung etc.), doch steht es den Tarifparteien häufig rechtlich frei, günstigere Bedingungen für die Arbeitnehmer auszuhandeln. So liegen z.B. die tariflichen Urlaubsansprüche deutlich über dem gesetzlichen Mindesturlaub.
Dominierende Kraft bei den Gewerkschaften sind die im Deutschen Gewerkschaftsbund (DGB) zusammengeschlossenen acht Industrie-(Wirtschaftszweig- bzw. Branchen-)Gewerkschaften mit 6,8 Mio. Mitgliedern (2005). Wichtiger als der durchschnittliche Organisationsgrad (ca. 20% für die DGB-Gewerkschaften) ist der Organisationsgrad in einzelnen Branchen (z.B. 75% bei den Automobilherstellern) für die Verhandlungsmacht der Gewerkschaften. Zu erwähnen sind noch einige z.T. recht erfolgreiche Berufsgewerkschaften wie z.B. die der Piloten (Vereinigung Cockpit), der Journalisten (DJU) und der angestellten Ärzte (Marburger Bund).
Genaue Zahlen über den Organisationsgrad der Arbeitgeber liegen nicht vor. Als ein Indikator hierfür kann der Geltungsbereich von Verbandstarifverträgen herangezogen werden. 2003 galten Verbandstarife in Westdeutschland (Ostdeutschland) für rd. 43% (21%) aller Betriebe (nicht Unternehmen!), in denen rd. 62% (43%) aller Beschäftigten tätig waren. Firmentarifverträge gab es in rd. 3% (5%) aller Betriebe für 8% (11%) aller Beschäftigten (Ellguth, /Kohaut, 2004, S. 450 f.). Mit der Größe der Betriebe steigt deren Zugehörigkeit zu Arbeitgeberverbänden (ca. 80% aller Betriebe mit mehr als 1000 Beschäftigten), aber auch die Tendenz Firmentarifverträge abzuschließen (Kohaut, /Schnabel, 1999, S. 4 ff.).
Die Verbandsverhandlungen können auf zentraler Ebene (für ganz Deutschland) oder – überwiegend bei Entgelttarifverträgen – auf Bezirksebene (häufig Bundesländer) stattfinden. De facto herrschen auch bei regionaler Verhandlungsführung zentrale Verhandlungen vor, weil i.A. sowohl die Tarifforderungen wie die Tarifangebote der Bezirke untereinander sowie mit dem Gewerkschaftsvorstand bzw. dem Bundesfachverband der Branche abgestimmt sind und der erste regionale Abschluss von den anderen Bezirken (u.U. mit regionalen Differenzierungen) übernommen wird (Pilotabschluss).
Über den Verlauf der Tarifverhandlungen – z.B. über Termin und Form von Vertragskündigungen, Unterbreitung von Tarifforderungen und -angeboten, Beginn und zeitliche Abfolge bzw. Ende von Tarifverhandlungen, Entscheidungen über deren Scheitern, Aufnahme von Schlichtungsverhandlungen – haben Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände im Allgemeinen Tarifverträge abgeschlossen, von deren Regelungen aber auch einvernehmlich aus Vereinfachungsgründen abgewichen werden kann.
Für die Tarifverhandlungen sind i.A. Tarifkommissionen der jeweiligen Verbände zuständig. Sie setzen sich i.d.R. aus hauptamtlichen Funktionären der Verbände und in der überwiegenden Anzahl aus Vertretern aus den Unternehmen und Betrieben zusammen. Zu ihren wesentlichen Aufgaben gehört i.A. die Entscheidung über die Kündigung von Tarifverträgen, über die Höhe von Tarifforderungen bzw. -angeboten, die Bildung von Verhandlungskommissionen und die Annahme oder Ablehnung der Verhandlungsergebnisse (über Verhandlungsergebnisse, die nach einem Streik zustande kommen, stimmen i.d.R. die Gewerkschaftsmitglieder ab, wenn dem Streik eine Urabstimmung der Mitglieder vorausging).
Im Zentrum der gewerkschaftlichen Tarifpolitik (Kahsnitz, 1997, S. 488 ff.) stehen die Arbeitsentgelte (inkl. Sonderzahlungen wie z.B. Urlaubs- und Weihnachtsgeld, betriebliche Altersvorsorge), die Arbeitszeit (wöchentliche, zeitliche Verteilung, Urlaub) und die Beschäftigungssicherung (z.B. Rationalisierungsschutzabkommen seit Ende der 1960er-Jahre, Beschäftigungssicherungsverträge – i.A. verbunden mit Verschlechterungen der Entgelte und/oder der Arbeitszeit – seit Beginn der 1990er-Jahre).
Grundsätzlich wird das Verhältnis der Tarifparteien als sozialpartnerschaftlich, auf einen kooperativen Interessenausgleich bedacht, charakterisiert. Ein wesentlicher Grund dafür ist, dass die DGB-Gewerkschaften trotz anfänglicher antikapitalistischer Programmatik von Beginn der BRD an die Politik verfolgten, die Arbeitsbedingungen im Rahmen einer sozialen Marktwirtschaft unter Berücksichtigung gesamtwirtschaftlicher Zusammenhänge zu verbessern. Hinzu kommen korporatistische Einbindungen beider Tarifparteien in Institutionen wie z.B. der sozialen Sicherung und der beruflichen Bildung sowie zeitweise institutionalisierte gemeinsame Gesprächsrunden mit der Regierung – wie die Konzertierte Aktion (1967 – 1977) und das Bündnis für Arbeit, Ausbildung und Wettbewerbsfähigkeit (1998 – 2002). Zwar waren die Empfehlungen des Bündnisses für Arbeit in keiner Weise bindend, doch wurden z.B. die moderaten Tarifabschlüsse des Jahres 2000 auf die Empfehlung zurückgeführt, das Produktivitätswachstum für beschäftigungswirksame Vereinbarungen zu nutzen (Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliches Institut in der Hans-Böckler-Stiftung (WSI), 2001, S. 31 ff.).
Die meisten Tarifverhandlungen verlaufen friedlich und von der Öffentlichkeit unbemerkt. Konfliktanfällig sind insb. die Verhandlungen um den ersten Tarifvertrag in den jeweiligen Lohnrunden. Sie werden häufig von den verhandlungsstärksten Gewerkschaften, z.B. der IG Metall geführt. Trotz des Pilotcharakters des ersten Tarifabschlusses bleiben harte Tarifverhandlungen mit Warnstreiks, Schlichtungsverfahren und – in Ausnahmefällen – Streiks in Einzelfällen auch danach nicht aus. Darin kommen u.a. die unterschiedliche Wirtschaftskraft der Branchen, die Stimmung der Verbandsmitglieder, die Verhandlungsmacht der Tarifparteien und unterschiedliche Schwerpunkte in der Tarifpolitik zum Ausdruck. Konfliktreichere Verhandlungsabläufe haben auch innerorganisatorische Legitimationsfunktionen. Den Verbandsmitgliedern soll demonstriert werden, dass ihre Interessen hart und am besten von ihrer Organisation vertreten werden.
Bestimmend für die Tarifstruktur sind die Verbandstarife. Auch wenn Firmentarife 45% aller in 2004 geltenden Tarifverträge ausmachten (Bundesministerium für Wirtschaft u. Arbeit, 2005, S. 7), ist ihre Bedeutung recht gering, da sie sich häufig nicht oder kaum von den entsprechenden Verbandstarifverträgen unterscheiden. In den Tarifverhandlungen geht es dann überwiegend um die Übernahme des Verbandstarifs oder dessen Anpassung an unternehmensspezifische Besonderheiten (Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliches Institut in der Hans-Böckler-Stiftung (WSI), 2001, S. 249). Wenn, wie in der Mineralölindustrie, nur Firmentarifverträge mit den wenigen Großunternehmen abgeschlossen werden und diese sich nur wenig voneinander unterscheiden, kommt dieses faktisch einem Branchentarifvertrag nahe.
Die Tarifverbände versuchen, die Attraktivität von Verbands(Flächen)tarifverträgen für die Arbeitgeber durch eine Reihe von Maßnahmen zu erhöhen, mit denen den Besonderheiten von Betrieben, insbesondere der leistungsschwächeren, besser entsprochen werden kann. Dazu gehört neben weiteren Branchendifferenzierungen und unternehmensbezogenen Tarifverträgen auch eine „ kontrollierte Dezentralisierung “ von Tarifverhandlungen im Rahmen von Öffnungs- bzw. Härteklauseln in den Verbandstarifverträgen. Unter bestimmten, im Tarifvertrag geregelten Voraussetzungen, dürfen die Betriebe dann die normalen tarifvertraglichen Arbeitsbedingungen begrenzt unterschreiten. Über die Wahrnehmung dieser Möglichkeit müssen sich Betriebsleitung und Betriebsrat in einer freiwilligen Betriebsvereinbarung einigen, d.h. die Zustimmung des Betriebsrats kann auch nicht durch den Spruch der Einigungsstelle ersetzt werden. Z.T. behalten sich aber die Tarifparteien noch die Genehmigung der Betriebsvereinbarungen vor. Wenn sie, was auch geschieht, direkt über die Anwendung der Öffnungs- bzw. Härteklauseln verhandeln, wird faktisch ein unternehmensbezogener Tarifvertrag abgeschlossen.
Arbeitgeberverbände und Gewerkschaften halten also an dem Vorrang von Verbandsverhandlungen fest. Dabei präferieren die Arbeitergeber möglichst zentrale Verhandlungen, sei es um Verhandlungskosten zu senken oder sei es, um die Tarifführerschaft von starken Gewerkschaftsbezirken zu neutralisieren, während die Gewerkschaften meist regionalisierte Verhandlungen bevorzugen, um Umfang und Kosten möglicher Tarifkämpfe einzudämmen.
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Bispinck, R. : Tarifpolitik und Bündnis für Arbeit, in: WSI Mitteilungen, H. 12/1999, S. 870 – 884
Breisig, T./Hardes, H. D./Metz, T. : Handwörterbuch Arbeitsbeziehungen in der EG, Wiesbaden 1993
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Dolvik, J. E. : Europäisierung oder Re-Nationalisierung? Zur Zukunft skandinavischer Gewerkschaftsstrategien, in: Europäische Union – Europäische Arbeitsbeziehungen, hrsg. v. Lecher, W./Platzer, H. W., Köln 1994, S. 295 – 321
Düro, A./Metz, T. : Verhandlungstheorien, in: Handwörterbuch Arbeitsbeziehungen in der EG, hrsg. v. Breisig, T./Hardes, H. D./Metz, T., Wiesbaden 1993, S. 601 – 605
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Getman, J./Blackburn, J. : Labor Relations, 2. A., New York 1983
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Kohaut, S./Schnabel, C. : Tarifbindung im Wandel, in: IW-trends, Jg. 26, H. 2/1999, S. 63 – 79
Kröll, M./Supernok, Y./Scherer, D. : Unternehmensverbände, nationale, in: Handwörterbuch Arbeitsbeziehungen in der EG, hrsg. v. Breisig, T./Hardes, H. D./Metz, T., Wiesbaden 1993, S. 584 – 596
Revel, S. W. : Tarifverhandlungen in der Bundesrepublik Deutschland, Baden-Baden 1994
Schnabel, C./Wagner, J. : Ausmaß und Bestimmungsgründe der Mitgliedschaft in Arbeitgeberverbänden, in: Industrielle Beziehungen, Jg. 3, 1996, S. 293 – 306
Schnabel, K. : Tarifautonomie und Tarifpolitik, Köln 2001
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Walton, R./McKersie, R. : A theory of labor negotiations: an analysis behavioral of a social interaction system, 2. A., New York 1991
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