Wirtschaftsinformatik
Grundlagen der Wirtschaftsinformatik
Die Wirtschaftsinformatik (abgek. WI) ist eine anwendungsorientierte Wissenschaftsdisziplin, die sich mit dem Entwurf, der Entwicklung und dem Einsatz von Informations- und Kommunikationssystemen in Wirtschaft und Verwaltung befasst.
1. Einordnung Als interdisziplinäres Fachgebiet integriert die WI Erkenntnisse aus der Betriebswirtschaftslehre und der Informatik. Sie weist einen starken Bezug zur Organisationslehre auf und diskutiert Fragestellungen mit Anlehnung an weitere Disziplinen, wie z.B. Recht (insb. Datenschutz), Soziologie, Psychologie (insb. Ergonomie), Mathematik siehe auch Wirtschaftsmathematik), Operations Research und Statistik. Oft wird die WI auch als sozial- und wirtschaftswissenschaftliches Fach mit ingenieurwissenschaftlicher Durchdringung angesehen. So ist die WI einerseits eine Realwissenschaft, denn sie beschäftigt sich mit Phänomenen der Wirklichkeit, insb. Informations- und Kommunikationssystemen in Wirtschaft und Verwaltung. Andererseits ist die WI auch eine Formalwissenschaft, da für die Beschreibung, Erklärung und Gestaltung der Informations- und Kommunikationssysteme formale Beschreibungsverfahren und Theorien notwendig sind. Und letztlich ist die WI auch eine Ingenieurwissenschaft, die zur Konzeption und Entwicklung von Informations- und Kommunikationssystemen eine ingenieurstypische Konstruktionssystematik nutzt.
2. Entwicklung Frühe Beiträge der WI zur betrieblichen Datenverarbeitung finden sich bereits Ende der 50er Jahre mit ersten grösseren Anwendungssystemen in Unternehmen und Lehrveranstaltungen an deutschsprachigen Universitäten. 1968 wurden an der Hochschule für Sozial- und Wirtschaftswissenschaften in Linz und 1970 an der Universität Erlangen/Nürnberg erste Lehrstühle mit Ausrichtung auf betriebliche Datenverarbeitung eingerichtet. 1975 etablierte sich die WI als „Wissenschaftliche Kommission Wirtschaftsinformatik (WKWI)” im Verband der Hochschullehrer für Betriebswirtschaft e.V. und 1978 zunächst als Fachausschuss, später als Fachbereich, in der Gesellschaft für Informatik e. V. Nachdem die WI 1971 im
2. Datenverarbeitungsförderungsprogramm der BRD im Vergleich zur Informatik nur unzureichend berücksichtigt worden war, profitierte sie im Zeitraum 1985-1990 vom ersten übergreifenden Forschungsprogramm der Deutschen Forschungsgemeinschaft e. V. Seit Anfang der 90er Jahre wurden eigenständige WI-Diplomstudiengänge an zahlreichen deutschen Universitäten eingerichtet. 1993 verabschiedete die WKWI ein Profil der WI, um Untersuchungsgegenstand, Ziele und Methodik der WI abzugrenzen. Bemerkenswert ist, dass gegenüber ihrer nordamerikanischen Schwesterdisziplin „(Management) Information Science” die WI eine weitgehend eigenständige Entwicklung nahm. Gemeinsam sind beiden zwar der Untersuchungsgegenstand Informations- und Kommunikationssysteme im betrieblichen bzw. organisationalen Umfeld, jedoch steht in Nordamerika die quantitative empirische, behavioristische Forschung im Vordergrund, während im deutschsprachigen Raum vorwiegend eine konstruktive Forschungsmethodik anzutreffen ist. WI ist heutzutage als Studienfach an fast allen wirtschafts- und sozialwissenschaftlichen Fakultäten, teilweise auch als eigener Studiengang (oft unter Beteiligung von Informatik-Fachbereichen oder -Fakultäten), vertreten. Der Schwerpunkt der Forschung liegt derzeit vor allem auf Methoden und Systemen zur Entscheidungsunterstützung (Business Intelligence), zur Unterstützung von Gruppenarbeit sowie zur Nutzung von Methoden der künstlichen Intelligenz. Daneben werden Anwendungen im Bereich Produktionsplanung und -steuerung, Logistik sowie Rechnungswesen und Controlling untersucht. Auch das Software-Engineering (siehe auch CASE) und die Modellierung betrieblicher Informationssysteme sowie das Informations- und Datenbankmanagement (Data Warehouses) stellen Forschungsgebiete dar.
3. Untersuchungsgegenstand Im Fokus der WI stehen Informations- und Kommunikationssysteme in Wirtschaft und Verwaltung. Mit Bezug auf diesen Betrachtungsgegenstand untersucht die WI die Teilgebiete Informationsverarbeitung und Kommunikation in Betrieben und Institutionen, Systementwicklung, Informationsmanagement, Informationsmarkt sowie die für Informations- und Kommunikationssysteme relevanten Basistechnologien. Bei der Informationsverarbeitung stehen betriebswirtschaftliche Anwendungssysteme in verschiedenen Bereichen (bspw. Industrie, Handel, Dienstleistungen, öffentliche Verwaltung), die Bürokommunikation und individuelle Datenverarbeitung, wissensbasierte Systeme sowie Schnittstellen zwischen Systemen zur Fertigungsautomation im Vordergrund. Gegenstand der Systementwicklung ist dagegen der Entwurf von Anwendungssystemen unter Nutzung der Prinzipien, Methoden und Werkzeuge des Software Engineering und des Projektmanagements sowie unter Berücksichtigung ökonomischer Rahmenbedingungen. Mit dem Einsatz der Anwendungssysteme im organisationalen Umfeld und grundsätzlichen Fragen der Planung, Steuerung und Kontrolle von Informations- und Kommunikationssystemen beschäftigt sich das Informationsmanagement. Betrachtet werden u.a. die Aufbauorganisation im Hinblick auf Informationsverarbeitungsaufgaben, der Betrieb von Anwendungssystemen, Prinzipien und Methoden, auf denen die Informationsverarbeitung basiert, sowie organisatorische Massnahmen zu Datenschutz und Datensicherung. Der Informationsmarkt bietet aus Sicht der WI eine Plattform zum Austausch von Produkten und Dienstleistungen im Umfeld von Informations- und Kommunikationssystemen. Im Fokus der Betrach-tung steht dabei vor allem betriebswirtschaftliche Standardsoftware, d. h. Anwendungssysteme, die von Software-Anbietern unabhängig von tatsächlichen Nachfragern entwickelt wurden und informationsverarbeitenden Einheiten in Wirtschaft und Verwaltung zur Lösung ihrer Problemstellung zur Verfügung stehen. Relevant für die WI sind letztlich auch die Basistechnologien, die den Informations- und Kommunika-tionssystemen als Anwendungs- und Kommunikationsinfrastruktur zugrunde liegen, insb. Rechnersys-teme, Kommunikationsnetze und Basissoftware.
4. Ziele Neben der Entwicklung von Methoden und Werkzeugen zur wissenschaftlichen Betrachtung des sozio-technischen Untersuchungsgegenstandes strebt die WI die Gewinnung von intersubjektiv nachprüfba-ren Erkenntnissen über Informations- und Kommunikationssysteme und deren Anwendung in Wirtschaft und Verwaltung mit allen technischen, organisatorischen und sozialen Aspekten an (Erkenntnis-ziel). Zweck der entwickelten Theorien, Methoden und Werkzeuge ist dabei die Unterstützung der menschlichen Aufgabenträger durch eine sinnvolle Teil- oder Vollautomation, d.h. die Übernahme von Informationsverarbeitungsaufgaben durch Anwendungssysteme unter Beachtung relevanter Kriterien, wie z.B. Zeit, Kosten und Qualität (Gestaltungsziel). Daneben ist auch die horizontale und vertikale Integration der verschiedenen Systeme der Informationsverarbeitung, bspw. in der industriellen Fertigung (siehe auch CIM), eine Zielstellung der WI.
5. Aufgaben Die WI liefert einen Beitrag zur Beschreibung von Informations- und Kommunikationssystemen durch die Schaffung eindeutiger terminologischer Grundlagen, die eine verteilte wissenschaftliche Arbeit erst ermöglichen. Darüber hinaus versucht die WI den Untersuchungsgegenstand zu erklären und das Systemverhalten zu prognostizieren, indem Modelle, Theorien und Hypothesen zu Informations- und Kommunikationssystemen entwickelt und empirisch überprüft werden. Neben Beschreibung, Erklärung und Prognose (Erklärungsaufgabe) stehen die Gestaltung von Anwendungssystemen und die ingenieurwissenschaftliche Erstellung von geeigneten Gestaltungshilfsmitteln, z.B. Methoden, Werkzeugen und Prototypen, für die Systementwickler in Wirtschaft und Verwaltung im Vordergrund. Aus einer am Lebenszyklus von Anwendungssystemen orientierten Perspektive lassen sich der WI die Aufgaben Konzeption, Entwicklung, Einführung, Wartung und Nutzung von Anwendungssystemen als automatisiertem Teil betriebswirtschaftlicher Informations- und Kommunikationssysteme zuordnen. Durch die Einbettung von Anwendungssystemen in einen organisatorischen Kontext müssen zusätzlich die Auswirkungen des Systemeinsatzes auf die Steuerungs-, Kosten- und Wertschöpfungsstrukturen in Wirtschaft und Verwaltung untersucht werden.
6. Methoden Um die Ziele zu erreichen und die daraus abgeleiteten Aufgaben zu erfüllen, wendet die WI Methoden und Werkzeuge aus arideren Real-, Formal- und Ingenieurwissenschaften an und entwickelt diese weiter. Bei der Auswahl und Kombination dieser Methoden und Werkzeuge müssen dabei neben der tech-nischen Wirksamkeit auch die ökonomische und soziale Einsetzbarkeit geprüft werden. Hierzu sind aus dem Bereich der Soziologie und Psychologie Kenntnisse über das Verhalten von Menschen als Aufga-benträger und Benutzer innerhalb von Informations- und Kommunikationssystemen notwendig. Dar-über hinaus setzt die Systemplanung einen Überblick über Zielhierarchien, Strategien, Organisationsstrukturen, Prozesse und Methoden in den Einsatzbereichen der Anwendungssysteme voraus. Weiter-hin werden gremdlegende Konzepte der Informatik, insb. Methoden und Werkzeuge der Systement-wicklung, deren Evaluierung, Auswahl und Einsatz, von der WI aufgegriffen und weiterentwickelt. Hinweis Zu den angrenzenden Wissensgebieten siehe Business Intelligence, Business Networking, Controlling-Informationssysteme, Change Management, Data Warehouse, Datenbanksysteme, E-Commerce, Electronic Government, E-Procurement, ERP-Systeme (Enterprise Resource Planning-Systeme), Management-Informationssysteme (MIS), Operations Research, Organisation, Grundlagen, Projektmanagement, Statistik, Wirtschaftsmathematik, Wissensmanagement, Workflow-Management.
Literatur: Abts, D. / Mülder, W.: Grundkurs Wirtschaftsinformatik — Eine kompakte und praxisorientierte Einführung; 5. Aufl., Vieweg, Wiesbaden 2004; Balzert, H.: Lehrbuch der Software-Technik, Teil 1: Software-Entwicklung; 2. Aufl., Spektrum, Heidelberg u. a. 2000; Ferstl,
0. / Sinz, E. J.: Grundlagen der Wirtschaftsinformatik; 5. Aufl., Oldenbourg, München 2006; Hansen, H. R. / Neumann, G.: Wirtschaftsinformatik, Teil 1: Grundlagen und Anwendungen; 9. Aufl., Lucius & Lucius, Stuttgart 2005; Mertens, P. / Bodendorf, F. / König, W. / Picot, A. / Schumann, M. / Hess, T.: Grundzüge der Wirtschaftsinformatik; 9. Aufl., Springer, Berlin et al. 2005; Sommerville, I.: Software-Engineering; 6. Aufl., Pearson Studium, München 2001; Stahlknecht, P. / Hasenkamp, U.: Einführung in die Wirtschaftsinformatik; 11. Aufl., Springer, Berlin et al. 2005. Internetadressen: Gesellschaft für Informatik, Fachbereich Wirtschaftsinformatik: http://www.giev.de/fachbereiche/fb-5/; Zeitschrift Wirtschaftsinformatik: http://www.wirtschaflsinformatik.de; Zeitschrift HMD — Praxis der Wirtschaftsinformatik: http://hmd.dpunkt.de; American Society for Information Science & Technology: http://www.asis.org
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