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Soziale Marktwirtschaft

sollte kein fertiges Konzept für Wirtschaftspolitik (Theorie der Wirtschaftspolitik) sein, sondern nur "ein der Ausgestaltung harrender, progressiver Stilgedanke" (Müller-Armack 1966, Soziale Marktwirtschaft 12). Deshalb ist der Ausgangspunkt in einer Definition unangemessen. Der Stilgedanke erschließt sich am besten in der kurzen wirtschaftlichen und politischen Situationsanalyse für die Nachkriegszeit und den Reaktionen auf spätere nationale und internationale Herausforderungen für die Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik. Die Situation in Deutschland nach 1945 (Abelshauser 1987, Blum 1980) ist gekennzeichnet durch die Sorge der Deutschen, die politische Einheit durch Aufteilung in Besatzungszonen nach unterschiedlichen Machtsphären zu verlieren. In der östlichen sowie in den westlichen Besatzungszonen gab es deshalb die Idee, einen "dritten Weg" zwischen Ost und West, zwischen Sozialismus und Kapitalismus zu finden. Ein neuer Wirtschaftsliberalismus (Ordoliberalismus, Freiburger Schule) und ein neuer Sozialismus (freiheitlicher bzw. demokratischer Sozialismus) boten solche "dritten Wege" an. Die Ausfüllung des Leitbildes bzw. des Stilgedankens der S. (Müller-Armack 1966, Blum 1980, Lampert 1990) erfolgte sehr pragmatisch nach der Faustregel: Beste Sozialpolitik ist Wachstumspolitik , beste Wachstumspolitik ist Marktwirtschaft . Dabei ist zu berücksichtigen, daß Deutschland seit Ende des 19. Jh. die vorbildlichste Sozialordnung in der westlichen Welt besaß. Sie brauchte nur durch Regelungen des Lastenausgleichs aufgrund von unterschiedlichen Kriegsverlusten der Bevölkerung ergänzt zu werden. Hinter dem Gedanken der S. verbirgt sich eine "Friedensformel", die gemäß dem Subsidiaritätsprinzip der Katholischen Soziallehre (Organisation der sozialen Verantwortung von der Eigenverantwortung zu den nächsthöheren sozialen und gesellschaftlichen Gruppen) versucht, das "Prinzip der Freiheit auf dem Markt mit dem des sozialen Ausgleichs zu verbinden" (Müller-Armack 1966, S. 243). Der Übergang zu marktwirtschaftlichen Prinzipien erfolgte in der Nachkriegszeit entsprechend sehr vorsichtig. Preise von Rohstoffen und lebensnotwendigen Gütern blieben zunächst in der Bewirtschaftung und wurden entsprechend den Erfolgen beim Wiederaufbau freigegeben. Nach der Befreiung der Wirtschaft (unternehmerische Freiheit) von den staatlichen Fesseln der nationalsozialistischen Kriegswirtschaft galt es, die Wirtschaftsordnung gemäß Ordoliberalismus mit dem Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen von 1957 (Grundgesetz der Wirtschaft, Magna Charta der Wirtschaftsordnung) wieder stärker zu betonen. Dabei zeigte sich jedoch, daß es leichter ist, dynamische Kräfte der Wirtschaft durch unternehmerische Freiheit zu beleben, als ihnen nachträglich eine Ordnung zu geben (Erhard 1962, Müller-Armack 1966). Das "deutsche Wirtschaftswunder" brachte neue wirtschafts- und gesellschaftspolitische Herausforderungen (Integration der deutschen Wirtschaft in den Weltmarkt, Inflationsprobleme (Inflation), Nachlassen des Wirtschaftswachstums). Neue Impulse erhielt die S. mit der Großen Koalition bzw. der sozial-liberalen Koalition als Antwort auf die erste große Wirtschaftskrise der sechziger Jahre. Ideen aus dem freiheitlichen Sozialismus brachte insbesondere Karl Schiller als Wirtschaftsminister ein. Aus dem Entwurf eines Stabilitätsgesetzes der alten Regierung machte er das " Gesetz zur Förderung der Stabilität und des Wachstums" von 1967. Es wurde das fortschrittlichste Wirtschaftsgesetz der Welt genannt, weil es "rationale Wirtschaftspolitik" der Regierung auf vier konkrete Ziele (Preisniveaustabilität , Vollbeschäftigung, angemessenes und stetiges wirtschaftliches Wachstum, außenwirtschaftliches Gleichgewicht : Ziele der Wirtschaftspolitik) festlegte und der Regierung ein neues Instrumentarium (Fiskalpolitik neben der traditionellen Geldpolitik) zur Erreichung der Ziele durch " Globalsteuerung " zur Verfügung stellte. Der "moralische Appell" als Mittel der Wirtschaftspolitik in der S. erhielt mit der "Konzertierten Aktion" zur einkommenspolitischen Abstimmung der gemäß GG autonomen Tarifpartner eine feste institutionelle Form. In dieser Ausgestaltung der S. zeigt sich besonders der herausgestellte programmatische und "instrumentale Charakter" des Stilgedankens. Der Wohlfahrtsstaat, der durch "sozialgesteuerte Marktwirtschaft" in demokratischen Entscheidungsprozessen entstanden war, sah sich in den 70er Jahren vor neuen Herausforderungen. Die wirtschaftliche Situation erhielt die Kennzeichnung Stagflation (steigende Preise bei kleinem oder stagnierendem wirtschaftlichen Wachstum, Arbeitslosigkeit). Die liberal-konservative Bundesregierung stellte sich den neuen Aufgaben 1982 mit der Devise "mehr Markt, weniger Staat" und der gesellschaftspolitischen Forderung nach einer "geistig moralischen Wende". Hatte die vorhergehende Bundesregierung mit nachlassendem wirtschaftlichen Wachstum den Staat überfordert, so droht der Wende zu "mehr Markt" angesichts der neuen Probleme auch durch Wandel des gesellschaftlichen Bewußtseins (qualitatives Wachstum, bessere Umwelt, größere Lebensqualität) die Gefahr, die Leistungsfähigkeit marktwirtschaftlicher Prinzipien zu überfordern. Dies gilt um so mehr, da sich die Grenzen der Verantwortung für Gemeinwohl zwischen Marktwirtschaft und Politik verwischen. Die Umweltproblematik führt zu Diskussionen um eine "ökologische Marktwirtschaft" bzw. eine "ökologische S.". Die "sozial gesteuerte Marktwirtschaft" steht mit zunehmender Arbeitslosigkeit trotz wirtschaftlichem Wachstum, aber technischem Fortschritt als "Jobkiller", vor neuen Herausforderungen. Der befürchtete größere Handlungsbedarf des Staates läßt neue Diskussionen um die "soziale Steuerung" der Marktwirtschaft sowie eine "marktwirtschaftliche Ordungspolitik" (Lampert und Bossert 1987) entstehen. Die Bundesregierung setzt am 16.12.1987 eine "Unabhängige Expertenkommission zum Abbau marktwidriger Regulierungen (Deregulierungskommission)" ein. Andererseits erfolgt eine neue Besinnung auf die ethischen Grundlagen der Marktwirtschaft (Hesse 1988, Blum 1991). Bereits das Grundsatzprogramm der CDU von 1978 (CDU 1978, S. 26, Ziff. 69) gesteht zu, für die Siehe auch dann einzutreten, "wenn sie weniger materiellen Wohlstand hervorbrächte als andere Systeme. Es wäre unerträglich, Güter auf Kosten der Freiheit zu gewinnen." Die Wahlnotwendigkeit bestehe jedoch nicht, weil die S. "nicht nur mehr immateriellen, sondern auch mehr materiellen Wohlstand" schuf als andere Ordnungsformen. Diese Überzeugung erhielt mit dem Zusammenbruch der sozialistischen Ordnungen in der DDR und Osteuropa während der Jahre 1989 und 1990 neue Bestätigung (List-Forum 1990 und 1991). Trotz der Erfahrungen in der Bundesrepublik mit der Ablösung nationalsozialistischer Planwirtschaft durch S. nach 1945 gibt es die Sorge in der Wirtschaftswissenschaft und Wirtschaftspolitik, es mangle an Erfahrungen und theoretischer Fundierung für die Gestaltung des Übergangs von der Planwirtschaft zur Marktwirtschaft (Sachverständigenrat 1990, S. 6, Ziff. 10). Ebenso leben entgegen den Erfahrungen mit der S. als "drittem Weg zwischen Kapitalismus und Sozialismus" Diskussionen um die Möglichkeit "dritter Wege" in den ehemals sozialistischen Ländern wieder auf. Dieser Blickwinkel neigt dazu, die durch den gescheiterten Sozialismus besonders verdächtige "soziale Steuerung" der S. auf "soziale Abfederung" der durch die notwendigen radikalen Strukturveränderungen entstehenden hohen Arbeitslosigkeit zu reduzieren, d.h. auf bloße Sozialpolitik. Aber die ursprüngliche Idee der S. beruht auf der "Einheit von Wirtschafts-, Finanz- und Sozialpolitik" (CDU 1978, S. 27, Ziff. 72). Das garantiert sozialen Frieden und Vertrauen in marktwirtschaftliche Prinzipien. So entstand nach 1948 das Wirtschaftswunder in der Bundesrepublik. Die Betonung radikaler Strukturreformen zugunsten marktwirtschaftlicher Prinzipien mit der Hoffnung auf Kompensation "sozialer Fehlentwicklungen" durch Sozialpolitik könnte in den übrigen ehemals sozialistischen Ländern zu falschen Weichenstellungen für den "Stilgedanken" der S. führen. Diesen Ländern fehlt zur notwendigen "sozialen Abfederung" des radikalen marktwirtschaftlichen Reformkurses der leistungsfähige sowie zahlungskräftige und zahlungswillige Nachbar. Daraus erwachsen Probleme für den sozialen Frieden sowie die erforderliche politische Stabilität zur Fortführung marktwirtschaftlicher und demokratischer Reformen. Ermunterungen zu neuen "dritten Wegen" entsprechend dem Stilgedanken der S. sind selten (Herder-Dorneich 1989). Das gilt auch für die Übertragung des Stilgedankens der S. auf die Gestaltung der Weltwirtschaftsordnung (Bormann u.a. 1990). Das offensichtliche Versagen der sozialistischen Alternative einer Weltordnung läßt aber noch leichter Ansätze zu einer neuen Weltwirtschaftsordnung, z.B. wenigstens nach dem Leitbild eines "sozialen Freihandels", als Schritt in eine "Weltplanwirtschaft" erscheinen. Das führt zur Vernachlässigung der notwendigen "sozialen Steuerung" des Freihandels mit entsprechenden "sozialen Fehlentwicklungen" analog den Erfahrungen mit der Marktwirtschaft in den westlichen Industrieländern (Entwicklungsländer als neue "soziale Frage der Welt").

Literatur: W. Abelshauser, Wirtschaftsgeschichte der Bundesrepublik Deutschland 1945-1980,
4. A., Frankfurt am Main 1987. R. Blum, Art. "Marktwirtschaft, Soziale", in: Handwörterbuch der Wirtschaftswissenschaften. Bd. 5, Stuttgart 1980, 153ff. R. Blum, Die Zukunft des Homo oeconomicus, in: B. Biervert u. M. Held (Hrsg.), Das Menschenbild in der ökonomischen Theorie, Frankfurt a. M./New York 1991, S. 111ff. A. Bormann, u.a., Soziale Marktwirtschaft. Erfahrungen in der Bundesrepublik Deutschland und Überlegungen zur Übertragbarkeit auf Entwicklungsländer. Hamburg 1990. Bundeszentrale für politische Bildung (Hrsg.), Wirtschaftspolitik, Schriftenreihe Bd. 292, Bonn 1990, insbesondere Teil I: "Das System der Sozialen Marktwirtschaft", S. 11ff. Ph. Herder-Dorneich, Perestroika und Ordungspolitik. Modelle der Systemreform in Teilschritten. Baden-Baden 1989. H. Hesse (Hrsg.), Wirtschaftswissenschaft und Ethik. Schriften des Vereins für Socialpolitik, N. F., Bd. 171, Berlin 1988. H. Lampert, Die Wirtschafts- und Sozialordnung der Bundesrepublik Deutschland. Geschichte und Staat, Bd. 278, 10. überarb. A. München 1990. H. Lampert u. A. Bossert, Die Soziale Marktwirtschaft  eine theoretisch unzulänglich fundierte ordungspolitische Konzeption?, in: Hamburger Jahrbuch für Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik, 32. Jahr, 1987, S. 109ff. List Forum für Wirtschafts- und Finanzpolitik, Baden-Baden, Bd. 16 (1990), H. 3 und Bd. 17 (1991), H.
1. A. Müller-Armack, Wirtschaftsordnung und Wirtschaftspolitik. Studien und Konzepte zur Sozialen Marktwirtschaft und zur europäischen Integration. Beiträge zur Wirtschaftspolitik, Bd.
4. Freiburg i. Br. 1966. Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, Sondergutachten "Zur Unterstützung der Wirtschaftsreform in der DDR: Voraussetzungen und Möglichkeiten" vom 20.01.1990, Deutscher Bundestag, 11. Wahlperiode, Drucksache 11/6301, Bonn.

 

 


 

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