Wirtschaftskriminalität
Inhaltsübersicht
I. Begriff
II. Kriminalpolitische Diskussion
III. Kriminologie
IV. Allgemeiner Teil des Wirtschaftsstrafrechts
V. Prozessuales im Wirtschaftsstrafrecht
I. Begriff
Die Wirtschaftskriminalität ist auch deshalb zunehmend in den Fokus (rechts-)politischer Betrachtung gelangt, weil in ihr erhebliche Bedrohungspotenziale für Wirtschaft, Gesellschaft und Staat vermutet werden. Die durch sie verursachten wirtschaftlichen Schäden seien enorm, sie belasteten den legalen Wirtschaftsverkehr und führten im Verein mit der sog. Organisierten Kriminalität zu einer politischen Unterwanderung. Zudem habe sich die bisherige Vorgehensweise gegen die Wirtschaftskriminalität als in hohem Maße ineffizient erwiesen.
1. Versuch einer abstrakten Bestimmung von Wirtschaftskriminalität und Wirtschaftsstrafrecht
Das nicht trennscharf zu umreißende Phänomen der Wirtschaftskriminalität soll über das (Wirtschafts-)Strafrecht im Sinne herkömmlicher Terminologie bekämpft werden (nachfolgend wird eine Analyse der Kriminalisierungsprozesse in den Vordergrund gestellt). Das 1. und das 2. Gesetz zur Bekämpfung der Wirtschaftskriminalität von 1976 und 1986 machen dabei den Konzeptionswandel im Vergleich zum Wirtschaftsstrafgesetz von 1954 explizit, das noch in erster Linie der Pönalisierung von Verstößen gegen Maßnahmen der staatlichen Planung galt. Sie vermögen aber das Wirtschaftsstrafrecht ebenfalls nicht abschließend zu umreißen, sondern legen lediglich fest, was jedenfalls zum Wirtschaftsstrafrecht gehört, also etwa der Subventions- und Kapitalanlagebetrug, die Insolvenzdelikte oder der Computerbetrug. Auch Untreue oder Betrug, die sich schon seit jeher im StGB finden, oder aber Straftatbestände des Nebenstrafrechts, also derjenigen Gesetze außerhalb des StGB, die ebenfalls Strafvorschriften enthalten (siehe beispielsweise die zunehmend in das Blickfeld der Öffentlichkeit geratenden Straftatbestände des AktG), sind zum Wirtschaftsstrafrecht zu rechnen.
Eine kriminologisch-kriminalistische Annäherung an den Begriff der Wirtschaftsstraftat findet sich in § 74 c GVG sowie in § 30 Abs. 5 Nr. 5 b AO. In § 74 c GVG wird bestimmt, bei welchen Straftaten des Neben- und des Kernstrafrechts die Wirtschaftsstrafkammer zuständig ist. Weniger enumerativ als inhaltlich ausgestaltet ist die Vorschrift der AO, die bei Wirtschaftsstraftaten unter anderem die Gefahr sieht, die wirtschaftliche Ordnung erheblich zu stören oder das Vertrauen der Allgemeinheit in die Redlichkeit des Geschäftsverkehrs zu erschüttern.
Das Verständnis des Alternativ-Entwurfs 1977 vom Wirtschaftsstrafrecht geht schließlich dahin, dass sich die Tat nicht (nur) gegen Individualinteressen, sondern gegen sozial-überindividuelle Belange des Wirtschaftsgeschehens richte, also sozial-überindividuelle Rechtsgüter des Wirtschaftslebens verletze oder Instrumente des heutigen Wirtschaftslebens missbrauche. Gerade diese Definition setzt eine intensive Diskussion mit dem jeweils durch den Straftatbestand geschützten Rechtsgut voraus. Hier zeigt sich, dass bei einer genauen Analyse häufig überindividuelle Rechtsgüter hypostasiert werden und es richtigerweise bei einem zusätzlichen (meist vorverlagerten) Vermögensschutz bleibt. So geht es beim Kreditbetrug (§ 265 b StGB) nicht um den Schutz des Kreditverkehrs, sondern um den vorverlagerten Vermögensschutz des einzelnen Kreditgebers. Würde man nun das Wirtschaftsstrafrecht nur auf den Schutz überindividueller Rechtsgüter beschränken wollen, so hätte dies eine erhebliche Beschneidung des Umfangs des sog. Wirtschaftsstrafrechts zur Folge. Da aber im Grundsatz einer dualistischen Rechtsgutskonzeption zu folgen ist, die individuelle wie auch kollektive Rechtsgüter für schützenswert erachtet, bedarf es auch für das Wirtschaftsstrafrecht einer zweigleisigen Vorgehensweise: Der Schutz wirtschaftlicher Institutionen gehört ebenso zu diesem wie die Unterbindung einer nicht gänzlich unerheblichen Beeinträchtigung solcher individuellen Rechtsgüter (meist des Vermögens), die das Wirtschaftsleben konstituieren.
Das Wirtschaftsstrafrecht wird durch zahlreiche Ordnungswidrigkeitentatbestände ergänzt, die sich eines quantitativ geringeren Unrechts annehmen. Das wichtige Beispiel der Kartellordnungswidrigkeiten (§§ 81 ff. GWB) sowie die Pönalisierung wettbewerbsbeschränkender Absprachen bei Ausschreibungen (§ 298 StGB) erst im Jahr 1997 verdeutlichen, dass die Abgrenzungsprobleme zwischen StGB und OWiG häufig weniger sachlogisch überzeugend gelöst werden als vielmehr das Produkt einer lobbyistisch beeinflussten Kriminalpolitik sind.
Die Klassifizierung als Wirtschaftsstraftat ist nicht nur wegen der erwähnten Sonderzuständigkeiten erforderlich. Sie rechtfertigt sich zudem aus der unbestritten großen praktischen Bedeutsamkeit dieser Materie – auch was die gesetzgeberische Aktivität anbelangt – , den Ähnlichkeiten in den Problemen der „ Bekämpfung “ sowie spezifischen Fragestellungen des Allgemeinen Teils.
2. Die wichtigsten Felder des Wirtschaftsstrafrechts bzw. der Wirtschaftsdelinquenz
Das Feld des auf die Wirtschaftsdelinquenz reagierenden Wirtschaftsstrafrechts ist weit, insb. auch deshalb, weil das sog. Nebenstrafrecht gerade hier eine nicht unwichtige Rolle spielt. Die Bedeutsamkeit mit kriminologischen Befunden zu unterfüttern, fällt in einem Bereich besonders schwer, der sich durch ein vermutetes großes Dunkelfeld sowie erhebliche Nachweisprobleme auszeichnet. Neben den oben bereits erwähnten Delikten des StGB sind aus dem Nebenstrafrecht solche zu nennen, die das Unternehmen von seiner Gründung bis zu seiner Liquidation begleiten (vgl. insb. §§ 399 ff. AktG, 82 ff. GmbHG), die Mindestbedingungen der Information der interessierten Allgemeinheit festlegen (so die Bilanzdelikte der §§ 331 ff. HGB), die den Verbraucher schützen (so insb. §§ 58, 59 Lebensmittel-, Bedarfsgegenstände- und Futtermittelgesetzbuch) oder das staatliche Vermögen schützen (neben dem erwähnten Subventionsbetrug [streitig] gehören insb. die Steuerdelikte hierzu).
II. Kriminalpolitische Diskussion
Die kriminalpolitische Diskussion, wie auf die Wirtschaftskriminalität zu reagieren sei, hängt im Wesentlichen vom eingeschätzten Ausmaß des Bedrohungspotenzials, von Aufgaben und Wirkweise des Strafrechts sowie der Einschätzung von Alternativen ab. Überwiegend wird in der Wissenschaft wie in der (gesetzgeberischen) Praxis auch unter Hinweis auf die enormen im Raume stehenden Schäden und einer permanenten Modifikation strafwürdigen Verhaltens einer Ausweitung des Wirtschaftsstrafrechts das Wort geredet. Die Strafvorschriften zum Schutz der finanziellen Interessen der Europäischen Gemeinschaften und damit wirtschaftsstrafrechtliche Vorschriften bildeten den Ausgangspunkt der europäischen Harmonisierungsbemühungen im materiellen Strafrecht (Hefendehl, Roland 2002b, S. 411). Umgekehrt stellt diese Materie den entscheidenden Kritikpunkt einer Sichtweise dar, die zumindest für eine Zurückdrängung des Strafrechtsschutzes kollektiver Rechtsgüter sowie der Deliktsform des abstrakten Gefährdungsdelikts plädiert. Die Bekämpfungsgesetze suggerierten nicht einlösbare Tatkraft: Auch für den Bereich des Wirtschaftsstrafrechts lasse sich der rational handelnde und auf die Existenz von Strafnormen Bedacht nehmende Straftäter nicht ausmachen. Präventionswirkungen versprächen allenfalls Maßnahmen sog. technischer bzw. situativer Prävention. Hierunter fallen sämtliche Bestrebungen, die nicht auf eine Beeinflussung des Entscheidungsprozesses des potenziellen Täters setzen, sondern die Tat als solche zumindest erschweren sollen (Beispiel: Aufspaltung des Zahlungsvorgangs in Anordnung und Auszahlung).
Der Kritik an einer Ausweitung des Strafrechts ist (nur) in den Fällen zuzustimmen, in denen vorschnell überindividuelle Konstruktionen verwandt werden, die die Legitimationsbedingungen verändern. Denn hat man erkannt, dass es teilweise um den Schutz von Individualrechtsgütern geht, stellt sich insb. die Frage eines legitimen (meist) vermögensrechtlichen Vorfeldschutzes. Ein strafrechtlicher Institutionenschutz ist in einem nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts wirtschaftspolitisch neutral formulierten GG (BVerfGE 4, 7, 17 f.; 7, 377, 400; 30, 292, 317, 319; 50, 290, 338) nur insoweit anzuerkennen, als er den Wettbewerb fördernde Vertrauensbedingungen schützt. So liegt der Fall etwa beim Vertrauen in die Funktionsfähigkeit des Kapitalmarktes als dem Rechtsgut des Kapitalanlagebetrugs (§ 264 a StGB).
Schließlich ist bei aller Kritik am Wirtschaftsstrafrecht zu konstatieren, dass auch die anderen vorgeschlagenen Maßnahmen mit erheblichen „ Nebenwirkungen “ zu kämpfen haben. Dies gilt für freiheitseinschränkende Präventions- und Exklusionsraster bei den erwähnten Maßnahmen der situativen Kriminalprävention (Hefendehl, 2006b, S. 17 ff.) ebenso wie bei den insb. in jüngerer Zeit in den Vordergrund gerückten Präventionsstrategien in Gestalt von Corporate Governance, Compliance und Business Ethics. Jüngste Untersuchungen zu einem möglichen Einfluss von Corporate Governance auf den Unternehmenserfolg mahnen zur Skepsis und relativieren die Hoffnungen auf präventive Wirkungen im Strafrecht. Business Ethics scheinen zudem nicht auf die Unternehmensspitze gemünzt zu sein und damit das Ziel zu verfehlen, die Kriminalität der Mächtigen einzudämmen (Hefendehl, 2006a, S. 119 ff.).
III. Kriminologie
Da die oben annäherungsweise umschriebene Wirtschaftskriminalität einen Schweregrad von der Bagatellkriminalität bis zu Schadenssummen in Milliardenhöhe wie beispielsweise im Flow-Tex-Verfahren umfasst, kann sie nur als Sammelbegriff verstanden werden (Heinz, Wolfgang 1993, S. 590), der nicht durch eine einzelne Theorie der Wirtschaftskriminalität erklärt werden kann. Vielmehr bedarf es des Rückgriffs auf unterschiedliche Erklärungsansätze. Die Theorie der differenziellen Kontakte, die Anomietheorie und lernpsychologische Ansätze können nur Teilbereiche erklären. Nutzbringend erscheint es, auf die kriminogene Wirkung der Einbindung des Täters in die Unternehmensorganisation und -hierarchie abzustellen. So konnte Sutherland Annahmen der Lern- und Subkulturtheorien empirisch bestätigen (Sutherland, Edwin H. 1974, S. 396). Verbandsdelikte sind unabhängig vom Charakter der individuellen Funktionäre und eher als Ergebnis eines in der beruflichen Sozialisation erlernten Verhaltens zu klassifizieren, wobei unter anderem die Geltungskraft der herrschenden Normen und Werte in der Gruppe von Bedeutung sind. Die Gruppenbedingtheit der Normverletzung wird auch durch andere Untersuchungen bestätigt (Clinard, Marshall B./Quinney, Richard/Wildeman, John 1994, S. 204 ff.) und lässt sich auf die von Sykes und Matza beschriebenen Techniken der Neutralisierung zurückführen (Sykes, Graham/Matza, David 1974, S. 360; zur Anwendung auf die Unternehmensspitze am Beispiel Ackermann vgl. Hefendehl, 2005, S. 244 ff.).
Die im Rahmen von Wirtschaftskriminalität häufig auftretende Rechtsguts- und Opferferne und die Erfahrung von individueller Fungibilität innerhalb der Organisation können als wesentliche mittelbar gruppenbedingte Rechtfertigungsstrategien ausgemacht werden. Schließlich mögen ökonomische Kriminalitätstheorien (Rational Choice) in denjenigen Bereichen Plausibilität für sich verbuchen, in denen Kriminalität tatsächlich Teil des betriebswirtschaftlichen Kalküls ist oder in denen aus anderen Gründen ein rationales Täterverhalten wahrscheinlich ist (Bock, Michael 2000, S. 90; Hess, Henner/Scheerer, Sebastian 1997, S. 111). Zu berücksichtigen bleibt dabei allerdings, dass ein auf den ersten Blick rationales Kalkül vielleicht gleichfalls auf „ irrationalen “ Motiven wie übertriebenem Ehrgeiz, Status, Tradition oder Verantwortung für das Unternehmen um jeden Preis beruht, deren psychologische oder psychiatrische Auffälligkeit im gesellschaftlichen Kontext indes nicht in gleicher Weise manifest ist (Bock, Michael 2000, S. 90).
Zu Umfang und Schadenshöhe gibt es unterschiedliche Zahlen und Schätzungen (Angaben aus der Polizeilichen Kriminalstatistik des BKA): 2004 wurden 81.135 Delikte der Wirtschaftskriminalität zugeordnet, wobei mit einem Anteil von 46% der Betrug das Schwergewicht ausmacht. Die festzustellenden erheblichen Schwankungen in den Fallzahlen von Jahr zu Jahr (2001 etwa: 110.018 Delikte) sind vor allem auf größere Ermittlungskomplexe mit vielen Einzelverfahren zurückzuführen. Die im Langzeitvergleich stetig zu verzeichnende Steigerung hat ihre Ursache in der verstärkten Ermittlungsarbeit in diesem Bereich. Der bei 1,2% der Gesamtkriminalität liegende Anteil der Wirtschaftsdelikte verursacht im Vergleich zu den übrigen mit Schadenssummen ausgewiesenen Straftaten ca. 54% (ca. 5,6 Mrd. Euro) des Gesamtschadens. Vage Schätzungen, die das Dunkelfeld mit einbeziehen, gehen demgegenüber von 40 bis 190 Mrd. Euro aus (Schwind, Hans-Dieter 2006, § 21 Rn. 7 ff.).
IV. Allgemeiner Teil des Wirtschaftsstrafrechts
Das Wirtschaftsstrafrecht folgt den allgemeinen Vorschriften des StGB. In Dogmatik und Rechtspolitik haben sich indes einige Besonderheiten herauskristallisiert: Häufiger als sonst muss sich das Wirtschaftsstrafrecht bei der Tatbestandsbildung der Blanketttatbestände bedienen, die ganz oder teilweise auf andere Vorschriften, insb. des Handelsrechts, verweisen. Die Unrichtige Darstellung (§ 331 HGB) muss also etwa auf die bilanzrechtlichen Vorwertungen rekurrieren. Gerade für den Bereich des Nebenstrafrechts ist häufig die sog. Vorsatztheorie propagiert worden, nach der bei fehlendem Unrechtsbewusstsein der Vorsatz entfällt. Niemand könne sich in diesem unübersehbaren, ständiger Veränderung unterliegenden und sozialethisch wenig fundierten Bereich auskennen, sodass bei einem Irrtum keine Ahndung notwendig sei. Demgegenüber sucht die Rechtsprechung auf der Basis der Schuldtheorie über die Auslegung der einschlägigen Vorschriften nach gerechten Ergebnissen (vgl. Jescheck, Hans-Heinrich/Weigend, Thomas 1996, S. 459 f.). Bei der „ Täterschaft und Teilnahme “ werfen insb. sog. Kollegialentscheidungen dogmatische Fragen auf. Die Vorschrift des „ Handeln für einen anderen “ (§ 14 StGB; für Ordnungswidrigkeiten § 9 OWiG) soll die Gefahr der Umgehung von Strafdrohungen verhindern, wenn die nach dem Tatbestand als Täter qualifizierte Person nicht selbst handelt, sondern einen anderen für sich handeln lässt (Beispiel: Der Geschäftsführer einer GmbH vereitelt die der Gesellschaft drohende Zwangsvollstreckung durch Beiseiteschaffen von Vermögensgegenständen. § 14 StGB sichert seine Bestrafung, obwohl die GmbH Schuldnerin ist.). Diese Regelung beseitigt aber nicht die Nachweisprobleme, wer innerhalb des Unternehmens die strafrechtlich relevanten Entscheidungen traf. Diese haben auch in Deutschland unter Zurückstellung erheblicher, aus dem Handlungsbegriff und dem Schuldprinzip herzuleitender Bedenken Forderungen nach einer genuinen strafrechtlichen Verantwortlichkeit von Unternehmen laut werden lassen, die durch entsprechende Vorschriften in zahlreichen EU-Staaten wie im angloamerikanischen Rechtskreis und einen Vorschlag der Europäischen Kommission bestärkt werden. Andere sehen die Möglichkeit, über § 30 OWiG sowie EU-Verwaltungssanktionen auch erhebliche Geldbußen gegen Unternehmen zu richten, als hinreichend an, die ggf. durch weitere effiziente, d.h. präventiv wirkende Maßregeln unterhalb des Strafrechts zu ergänzen seien.
Über § 130 OWiG (Verletzung der Aufsichtspflicht in Betrieben und Unternehmen) soll dadurch eine Erleichterung des Nachweises erfolgen, dass es für eine Ordnungswidrigkeit ausreicht, wenn die betriebliche Zuwiderhandlung durch die Aufsicht „ wesentlich erschwert “ worden wäre.
Wirtschaftsstraftaten sollen sich nicht lohnen. Deswegen stellt das Wirtschaftsstraf- und -ordnungswidrigkeitenrecht Sanktionen bereit, die auf unlauteres Gewinnstreben abstellen. Über die Vorschriften des Verfalls (§§ 73 ff. StGB, § 29a OWiG) wird unter bestimmten – teils sehr kompliziert geregelten – Voraussetzungen dem Nutznießer der rechtswidrigen Tat das Erlangte wieder entzogen. Statt des Verfalls greift im Preis- und Kartellrecht (§§ 8 ff. WiStG und § 81 GWB) die Abführung des Mehrerlöses. Hierbei kann der abzuführende Mehrerlös sogar deutlich über dem erzielten Gewinn liegen. Im Ordnungswidrigkeitenrecht schließlich ist mittels § 17 Abs. 4 OWiG mit der Bußgeldverhängung auch die Gewinn- und sonstige Vermögensabschöpfung möglich. Die Vermögensstrafe gem. § 43a StGB ist vom BVerfG im Jahre 2002 für verfassungswidrig erklärt worden. Die Einziehung von Produkten oder Instrumenten der Straftat erfolgt über § 74 ff. StGB bzw. §§ 22 ff. OWiG.
Wozu die häufig auch im Wirtschaftsstrafrecht propagierte sog. wirtschaftliche Betrachtungsweise dienen soll, bleibt regelmäßig unklar. Wenn sie auf die Relevanz von Positionen unterhalb des juristischen Privatrechts sowie von tatsächlichen Risiken im Wirtschaftsverkehr verweist, verkennt sie, dass sich das Recht schon längst auch dieser Zwischenstadien angenommen hat und das Wirtschaftsleben bereits eine wesentlich differenziertere Durchnormierung erfahren hat, so dass es einer „ wirtschaftlichen Betrachtungsweise “ überhaupt nicht bedarf (Hefendehl, Roland 1994, S. 103 ff.).
V. Prozessuales im Wirtschaftsstrafrecht
1. Sicht der Strafverfolgung
Wirtschaftsstrafverfahren erweisen sich regelmäßig auch dann als besonders problembehaftet, wenn der Vermögensschaden kein Tatbestandsmerkmal darstellt. Denn die insoweit typischen Corporate Crimes als Delikte, die aus einem Unternehmen heraus begangen werden, bringen besondere Nachweisprobleme mit sich, die zu den häufig wirtschaftlich und rechtlich komplexen Sachverhalten treten. Wirtschaftsstrafkammern bei den Landgerichten (§ 74 c GVG) sollen mit Schwerpunktstaatsanwaltschaften für Wirtschaftsstrafsachen Defizite bei der Beurteilung und Verfolgung mindern.
Großverfahren im Wirtschaftsstrafrecht sind Anlass für eine Reihe von den klassischen Strafprozess modifizierenden Reformen gewesen: Der Verfolgungszwang ist relativiert worden, um durch die teilweise Nichtanklage einzelner Komplexe der Stofffülle zu begegnen. Das Unmittelbarkeitsprinzip in der Hauptverhandlung wurde beim Beweis mittels Urkunden in der Weise eingeschränkt, dass sie nicht mehr sämtlich verlesen werden müssen. Fristen sind verlängert worden, um Verfahren und Verfolgung nicht zu gefährden. All diese Versuche sind indes durch die auch vom Gericht bzw. der Staatsanwaltschaft forcierten informellen Absprachen überrollt worden, die weit dramatischere Wandlungen des Strafprozesses bewirken als die erwähnten Reformen im Detail (kritisch zu deren Vereinbarkeit mit der StPO etwa Schünemann, Bernd 1990). Der Prototyp sieht dabei einen Strafnachlass bei einem regelmäßig allenfalls kursorisch überprüften Geständnis vor, der häufig zu einer Strafaussetzung zur Bewährung führt.
Alle gegenwärtigen und vom BGH (NJW 2005, 1440, 1447) angemahnten Bemühungen, die Absprachen durch Gesetze zu „ bändigen “ , greifen zu kurz, weil dies allenfalls in einer Gesamtreform des Strafprozessrechts unter einer neuen Ausbalancierung der Machtpositionen der Verfahrensbeteiligten erfolgen könnte.
2. Sicht der Verteidigung
Das Wirtschaftsstrafrecht setzt nicht nur in materieller, sondern auch in prozessualer Hinsicht besondere Fertigkeiten des Strafverteidigers voraus, die das besondere Profil des Verteidigers in Wirtschaftsstrafsachen entstehen ließen. Diesem kommt zum einen im Vorfeld eine beratende Tätigkeit zu, die die strafrechtlichen Risiken riskanter wirtschaftlicher Betätigung beurteilt. Bei sog. Vorfeldermittlungen sowie nach Einleitung des Ermittlungsverfahrens hat der Verteidiger sein Hauptaugenmerk auf die Verhinderung eines regelmäßig auch wirtschaftlich schädlichen Hauptverfahrens zu richten, was auch über Einstellungen gegen Auflagen (insb. § 153 a StPO) bzw. Strafbefehle möglich ist. Für das Vorverfahren wie die Hauptverhandlung in Wirtschaftsstrafsachen typische Beratungsfelder sind die Initiierung und Realisierung der erwähnten informellen Absprachen im Strafprozess.
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