Kanban
Inhaltsübersicht
I. Motivation
II. Dezentrales Pull-Prinzip als Grundkonzept
III. Funktionsweise der Kanban-Steuerung
IV. Einsatzvoraussetzungen
V. Gestaltung von Kanban-Systemen
VI. Kritische Würdigung
I. Motivation
Zu Beginn der 1950er-Jahre entwickelte Toyota in Japan das Kanban-System zur Planung und Steuerung des Materialflusses in der Produktion (Monden, Y. 1981c; Ohno, T. 1986). Im Rahmen der Materialflusssteuerung ist die zeitliche und sachliche Struktur der Beschaffung, Fertigung und des Transports der im Unternehmen eingesetzten Materialarten festzulegen. Kanban-Produktionssysteme zielen darauf ab, die Lagerbestände und damit die Kapitalkosten dadurch abzusenken, dass Materialien und Produkte nicht mehr in großen Mengen vorproduziert werden, sondern erst dann gefertigt und montiert werden, wenn sich der Bedarf konkretisiert hat (Bitran, G. R./Chang, L. 1987; Monden, Y. 1981a). Auf Endproduktebene wäre diese Konkretisierung das Vorliegen von Kundenaufträgen, auf Zwischenproduktebene das durch den tatsächlichen Materialverbrauch implizierte Sinken des Lagerbestands auf ein bestimmtes Mindestniveau. Ein Lagerbestand von 0 – wie bei Just in Time-Konzepten häufig als Idealfall unterstellt – wird sich bei Kanban aufgrund der unterliegenden Steuerungsphilosophie normalerweise nicht realisieren lassen. Dennoch ist die Kanban-Steuerung sicherlich eines der wichtigsten Instrumente zur Realisierung der Just in Time-Produktion (Soom, E. 1986). Die durch die Einführung des Kanban-Systems erzielte Lagerbestandsreduktion in japanischen Unternehmen wird in empirischen Studien mit 16 – 45% angegeben (Hall, R. W. 1983; Gupta, Y. P./Gupta, M. 1989b).
Neben diesem unmittelbaren Kosteneffekt durch geringere Lagerbestände existiert noch der mittelbare Effekt, dass Lagerflächen eingespart werden und somit die kurzfristig fixen Lagerkosten (kalkulatorische Abschreibungen, Zinsen auf Gebäude und Flächen etc.) mittelfristig sinken. Tatsächlich waren in Japan die Raumknappheit und damit die hohen Kosten für die Inanspruchnahme von Lagerressourcen ein wichtiger Grund zur Einführung des Kanban-Systems.
II. Dezentrales Pull-Prinzip als Grundkonzept
Im Unterschied zu den zentral ausgerichteten Planungs- und Steuerungskonzepten, wie sie in vielen PPS-Systemen realisiert wurden, räumt das Kanban-System den dezentralen Stellen Entscheidungskompetenzen zur Ablaufsteuerung ein. Typisch für die Kanban-Steuerung ist das so genannte »Pull-Prinzip« (Hol-Prinzip), bei dem Fertigungsstellen die zur Auftragsbearbeitung erforderlichen Vormaterialmengen selbstständig anfordern bzw. abholen. Die Zentralinstanz muss lediglich für die Auftragsimpulse in der Endfertigungsstufe sorgen (vgl. Abb. 1). Dadurch pflanzt sich der Steuerungsimpuls zur Auftragsbearbeitung, dem physischen Materialfluss entgegengerichtet, durch das Netz von Produktionsstellen bis zum Rohstofflager fort. Das dagegen in MRP-Konzepten (MRPII: Material Resources Planning; MRPI: Material Requirements Planning) realisierte »Push-Prinzip« (Bring-Prinzip) räumt der zentralen Instanz die alleinige Auftragssteuerungskompetenz ein. Die Zentralinstanz synchronisiert den Materialfluss und plant zentral das von den einzelnen Stellen herzustellende Auftragsprogramm. Nach Auftragsbearbeitung werden die erstellten Teile zur weiterverarbeitenden Stelle transportiert (bzw. in deren Eingangslager »geschoben«) und die Fertigstellung rückgemeldet. Beim Pull-Prinzip dagegen erfolgt die Produktion der Vorstufe auf Basis des Verbrauchs der nachfolgenden Stufe. Diese ist für die Generierung des Auftragsimpulses zur Reproduktion zuständig. Eine Vorinformation, wann voraussichtlich der Auftragsimpuls eintreffen wird, erfolgt nicht, sodass für einen reibungslosen Ablauf zumindest ein kleines Pufferlager vorgehalten werden muss.
Abb. 1: Pull- und Push-Prinzip am Beispiel einer dreistufigen Fertigung
III. Funktionsweise der Kanban-Steuerung
Zur Realisierung eines Kanban-Systems wird die Produktionssteuerung so organisiert, dass ein System vermaschter Auftragsregelkreise entsteht, die ihre Daten, orientiert an tatsächlichen Materialverbrauchsverläufen, unmittelbar zwischen der verbrauchenden und der produzierenden Fertigungsstelle austauschen und, dem Informationsfluss entgegengerichtet, den Materialfluss in Gang setzen. Zur Kommunikation zwischen den Stellen und als Informationsmedium bedient man sich zumeist dezentral weitergeleiteter »Steuerungsobjekte« in Form von Kanbans. Kanban bedeutet – aus dem Japanischen übersetzt – »Schild« oder »Karte« und bezieht sich zunächst auf den physischen Informationsträger, der die Materialien in einem Behälter qualitativ und quantitativ identifiziert und gleichzeitig die Auftragserteilung spezifiziert. Häufig unterscheidet man zwei Arten von Kanbans: Produktionskanbans, die in der fertigenden Stelle Reproduktionsaufträge auslösen, und Transportkanbans zur Identifikation von Materialien im Pufferlager und in weiterverarbeitenden Stellen. Die Abb. 2 zeigt Beispiele für Produktions- und Transportkanbans (Glaser, H./Geiger, W./Rohde, V. 1992; Lermen, P. 1992; Monden, Y. 1981a; Suzaki, K. 1989).
Abb. 2: Produktions- und Transportkanban
Im weiteren Sinne spricht man auch dann von Kanban-Systemen, wenn auf den physischen Informationsträger \'Karte\' zugunsten einer elektronischen Datenübermittlung verzichtet wird und man sich lediglich auf die zugrunde liegende Semantik dieser Steuerungsform beschränkt. Sie besteht zum einen darin, dass die informationellen und materiellen Objekte gekoppelt (\'logisch zusammengeschweißt\') werden, wie dies in \'traditionellen\' Kanban-Systemen durch die Kanban-Karte als physischer Steuerungsimpuls realisiert wird. Die informationellen Objekte sind die Aufträge, die materiellen Objekte repräsentieren die in den Behältern befindlichen Materialbestände. Semantisch wesentlich ist zum Zweiten, dass die Objekte dezentral verwaltet werden, und zwar in der Weise, dass die Stellen, welche eine bestimmte Vormaterialart verarbeitet haben, auch den Anstoß für ihre Reproduktion geben und dass alle Stellen, bis auf die Endproduktstufe, auf solche Auftragsimpulse ihrer »Verbraucher« angewiesen sind, da ihnen ohne diese Beauftragung jede Produktion verboten ist. Lediglich die Endstufe bekommt ihre Auftragsimpulse von einer außerhalb des Kanban-Systems stehenden Zentralinstanz. Damit diese Auftragssteuerung nicht zu Verzögerungen bzw. Fehlmengen und damit zu einem Kollaps in einem Teilbereich des Fertigungssystems führt, muss in Kanban-Systemen stets die schnelle Bereitstellung der benötigten Materialien gewährleistet sein.
Abb. 3 zeigt am Beispiel der Produktion einer Teileart anschaulich, wie dieses Steuerungsprinzip zwischen zwei Fertigungsstellen funktioniert (Fandel, G./François, P. 1989; Monden, Y. 1981a; Lackes, 1995). Hierbei ist ein Zwei-Karten-System unterstellt, das mit den oben beschriebenen beiden Kanbantypen arbeitet. Im abgebildeten Beispiel beliefert die Produktionsstelle n-1 die weiterverarbeitende Stelle n mit Vormaterialien. Wenn die verbrauchende Stelle n ihre Vormaterialien aus einem Behälter entnimmt und verarbeitet, wird der am Behälter befindliche Transportkanban abgelöst und in einer Kanban-Sammelbox verwahrt, bis die dort befindlichen Transportkanbans zusammen mit den zugehörigen leeren Behältertypen zum Pufferlager transportiert werden. Der Transportkanban enthält im Sinne eines Transportauftrages Informationen darüber, welches Pufferlager anzusteuern und welches Material zu entnehmen ist. Im Pufferlager tauscht man den Transportkanban gegen den sich an den vollen Behältern befindenden Produktionskanban aus, der leere Behälter wird im Leergutlager abgeliefert, und ein voller Behälter wird an die konsumierende Stelle n weitertransportiert. Zugleich wird der im Pufferlager abgelöste Produktionskanban zusammen mit dem leeren Behälter zur reproduzierenden Stelle n-1 gebracht, wo er, möglicherweise zunächst in einer Sammelbox zwischengelagert, die Reproduktion einer Behälterfüllmenge anstößt. Ist der Behälter wieder aufgefüllt, wird er, versehen mit einem den Inhalt identifizierenden Produktionskanban, ins Pufferlager gebracht.
Abb. 3: Funktionsweise der Kanban-Steuerung
Die Beschreibung der Funktionsweise lässt die beiden Regelkreise erkennen: den Transportkanban-Kreislauf (T-Regelkreis) zwischen dem Pufferlager und der weiterverarbeitenden Stelle und den Produktionskanban-Kreislauf (P-Regelkreis) zwischen der produzierenden Stelle und dem Pufferlager. Ein Kanban zirkuliert also stets innerhalb eines Regelkreises zwischen einer Materialquelle und einer Materialsenke. Die Schnittstelle bildet der Austausch der Kanbans bei der Entnahme im Pufferlager. Alle Produktionsvorgänge gehen somit auf den Verbrauch von Materialien zurück, und es entsteht ein System selbststeuernder, vermaschter Regelkreise, die den Material- und Informationsfluss synchronisieren. Der Primärbedarf der Endstufe bildet dabei den Eingangsimpuls, der sich, je nach Verbrauch an Vormaterialien, ohne Eingriffe einer Zentralinstanz dem Materialfluss entgegengerichtet sukzessive fortpflanzt. Durch das Prinzip der Selbststeuerung werden der Planungs- und Kontrollaufwand reduziert und die Produktionssteuerung simplifiziert. Aus organisationstheoretischer Sicht verkörpert die Kanban-Steuerung ein Instrument der Komplexitätsreduktion.
Charakteristisch für die Kanban-gesteuerte Just in Time-Produktion ist, dass jeder Behälter mit einer Kanban-Karte assoziiert werden kann und dass stets mit festen, vorher festzulegenden Losgrößen produziert wird. Varianten dieses Funktionsprinzips finden sich als Ein-Karten-Systeme oder als Behälterkanban-Systeme (Lermen, P. 1992; Schonberger, R. J. 1982).
Ein-Karten-Systeme verzichten auf die Verwendung von Produktions- oder Transportkanbans bzw. nutzen eigene, durchlaufende Kanbans. Bei ausschließlicher Verwendung der Transportkanbans erhält die reproduzierende Stelle ihren Auftragsimpuls, wenn sich leere Behälter im Pufferlager befinden. Welche Teileart zu produzieren ist, ergibt sich entweder aus dem Behältertyp oder aus der im Pufferlager verfügbaren jeweiligen Menge. Werden lediglich Produktkanbans eingesetzt, entsteht eine Informationslücke zwischen dem Pufferlager und der verbrauchenden Stelle. Wenn die Transportwege eindeutig sind und die Identifizierung der Teilearten in den angebrochenen Behältern der verbrauchenden Stelle unproblematisch ist, kann man auf Transportkanbans verzichten. Werden eigene durchlaufende Kanbans präferiert, so sind sie zumeist unlösbar an einen Behälter gebunden. Nachteilig kann sich hier auswirken, dass entweder die Informationen über die verbrauchende Stelle entfällt oder aber die Gefahr besteht, für jeden Verbraucher eigene Teillagerbestände aufzubauen.
Um die Funktionsfähigkeit der Kanban-Steuerung zu gewährleisten, sind die folgenden ablauforganisatorischen Regeln bzw. Invarianten einzuhalten (Lackes, R. 1995; Monden, Y. 1981a; Schonberger, R. J. 1993; Soom, E. 1986; Wildemann, H. 1983):
- | Die Anzahl der zwischen zwei Stationen (Stellen) kreisenden Kanban-Karten bleibt ohne Eingriff von außen konstant. Eine Intervention erfolgt selten. Wird eingegriffen, dann betrifft der Eingriff das Einschleusen neuer bzw. das Eliminieren bereits vorhandener Karten. Da mit jeder Karte ein (standardisierter) Behälter und damit eine bestimmte Materialfüllmenge verbunden ist, wird der maximale Lagerbestand durch die Gesamtzahl der Kanbans determiniert. | - | Ein Fertigungsauftrag über eine vorher festgelegte Losgröße kann nur über Kanbans (Produktions-Kanban im Zwei-Karten-System) erfolgen. Aufträge dieser Art darf ausschließlich der Materialsverbraucher auslösen. Es werden nur die Standardbehälter benutzt, und diese sind genau mit der entsprechenden Füllmenge zu bestücken. | - | Die Materialanforderung der weiterverarbeitenden Stelle beschränkt sich auf die Mengen, die tatsächlich verbraucht worden sind. Insb. darf sie niemals vorzeitig oder mehr Material anfordern. Auf der anderen Seite gilt für die erzeugende Stelle analog, dass nie mehr als die angeforderten Mengen und erst nach der konkreten Anforderung produziert werden darf. Eine vorzeitige Herstellung und selbstverständliche eine Weitergabe fehlerhafter Erzeugnisse ist unzulässig. |
Mit diesen Regeln ist der Entscheidungsspielraum der dezentralen Stellen auf die Festlegung der Reihenfolge abzuarbeitender Produktionskanbans beschränkt. Die Auflegungshöhe wird determiniert durch die vorgesehene Behälterfüllmenge (evtl. ein ganzzahliges Vielfaches davon). Die Anzahl der Karten (und damit der Behälter) sowie die Behälterfüllmenge determinieren den Lagerbestand (genauer: den maximalen Lagerbestand) und sind somit die entscheidenden Gestaltungsparameter des Kanban-Systems. Sie sind vom Systemdesigner bei der Architektur so festzulegen, dass ein kontinuierlicher Materialfluss gewährleistet ist und gleichzeitig die Kapitalkosten für die Pufferläger minimiert werden. Eine zu geringe Anzahl an Behältern birgt die Gefahr, den Produktionsfluss zu unterbrechen. Zu viele Behälter führen zu unnötigen Pufferlagerbeständen und dadurch zu erhöhten Lagerkosten. Es hängt neben den Lagerkosten von den Verbrauchs-, Produktions-, Rüst- und Transportgeschwindigkeiten und -kosten ab, wie diese Systemparameter festzulegen sind.
IV. Einsatzvoraussetzungen
Die Kanban-Steuerung ist nicht für alle Teile, Fertigungsverfahren und Organisationsformen geeignet. Als wichtigste Einsatzvoraussetzungen werden genannt (Fandel, G./François, P. 1989; Lermen, P. 1992; Lackes, 1995):
- | Auswahl geeigneter Produkte, | - | geringe Durchlaufzeiten, | - | wirtschaftliche Fertigung kleiner Lose, | - | hohes Qualitätsniveau und | - | flexibler Personaleinsatz. |
Bezüglich der Teileauswahl ist auf standardisierte Teile zu achten, die nur ein geringes Variantenspektrum aufweisen. Ggf. sind Maßnahmen zur Normung und Typung bzw. Teilefamilienbildung einzusetzen. Fließgüter und sperrige, großvolumige Materialien sind generell ungeeignet. Weiterhin sollten die Umschlagshäufigkeit der Teile groß und ihr Jahresbeschaffungs- bzw.-herstellkostenwert als Indikator für das erschließbare Rationalisierungspotenzial möglichst hoch sein. Aus Kostengründen überwacht man auch seltener hergestellte, sehr teure Produkte besser zentral. Bezüglich der Bedarfsstruktur eignen sich am besten Teile, die einen regelmäßigen Bedarfsverlauf aufweisen und somit repetitive Prozessabläufe erlauben. Zur Klassifizierung JIT-geeigneter Teile bietet sich der Einsatz von ABC- und RSU-Analysen an. Kleinere Schwankungen fängt das Kanban-System durch Erhöhung bzw. Verringerung der Zirkulationsfrequenz der Kanbans in den Regelkreisen auf. Gegenüber abrupten, unregelmäßigen Nachfrageschwankungen ist das Kanban-System jedoch machtlos.
Zwingend erforderlich sind in Kanban-Produktionssystemen kurze Durchlaufzeiten, um trotz der relativ späten Beauftragung noch rechtzeitig und kontinuierlich fertigen und liefern zu können. Die in den Lagerbeständen (»Pufferbestände«) verkörperten Flexibilitätspotenziale müssen durch bestandsneutrale Flexibilitätsparameter, wie kurze Durchlaufzeiten oder flexiblen Personaleinsatz, substituiert werden.
Zur Erhöhung der Reaktionsfähigkeit bezüglich begrenzter quantitativer Nachfrageschwankungen sind die Losgrößen möglichst niedrig zu halten. Um auch kleine Lose kostengünstig fertigen zu können, müssen die Rüstkosten gesenkt werden. Da Rüstprozesse zumeist keinen nennenswerten Materialverbrauch erfordern und sich die Rüstkosten vielfach proportional zu den Rüstzeiten verhalten, müssen insb. diese verkürzt werden (zu Einzelheiten vgl. Monden, Y. 1981b u. Monden, Y. 1983).
Die einmal festgelegte Auflegungsgröße bleibt mittelfristig konstant. Der Durchfluss kann nur durch Veränderung der Auflegungsfrequenz modifiziert werden. Ein an den Arbeitsgangfolgen ausgerichtetes, flussorientiertes Layout der Betriebsmittel verringert die Transportkosten und -zeiten, erleichtert das Materialhandling und bietet einen besseren Überblick. Bei der Anordnungsstruktur hat sich die U-Form am besten bewährt, weil hierdurch ein flexibler Personaleinsatz, eine schnelle Reaktion auf Maschinenstörungen (insb. bei Mehrmaschinenbedienung) und organisatorische Vereinfachungen ermöglicht werden (Hall, R. W. 1983; Hay, E. J. 1988; Wildemann, H. 1986).
Wegen der relativ geringen Lagerbestände ist ein Kanban-System anfällig gegenüber Qualitätsmängeln und Maschinenausfällen. Die hohe Verfügbarkeit der Anlagen kann durch die Berücksichtigung von Kapazitätsreserven, vorbeugende Wartungs- und Instandhaltungsmaßnahmen und Ausweichaggregate gewährleistet werden. Der hohe Qualitätsanspruch an die Teile erfordert intensive Qualitätskontrollen bei den produzierenden Stellen. Mangelhafte Teile dürfen keinesfalls an die nächste Fertigungsstufe weitergeleitet werden. Zur Qualitätssicherung werden zwei Strategien unterschieden (Monden, Y. 1983):
1. | Die Qualitätssicherung durch eine automatisierte Prozessüberwachung (»Pokayoke« und »Jidoka«). | 2. | Die selbstständige Ausführung manueller Qualitätskontrollen durch die ausführenden Arbeitskräfte (Selbstprüfung). |
An die Mitarbeiter stellt ein Kanban-System hohe Anforderungen bezüglich ihrer Einsatzflexibilität, Motivation und Verantwortung. Die Einsatzflexibilität betrifft nicht nur die Arbeitszeiten, sondern auch das Ausbildungsniveau. Die Arbeitnehmer sollten in der Lage sein, an verschiedenen Produktionsstellen einspringen und unterschiedliche Maschinen bedienen zu können. Weil die Koordination der Tätigkeiten und das Zusammenspiel der verschiedenen Fertigungsstellen für die Leistungsfähigkeit von Kanban-Systemen besonders bedeutsam sind, bieten sich Gruppenfertigungskonzepte in diesem Bereich an. Zur Motivation und Verbesserung des Qualitätsbewusstseins der Arbeitnehmer tragen differenzierte Prämienlohnsysteme am ehesten bei. Völlig ungeeignet sind Akkordlohnsysteme.
V. Gestaltung von KanbanSystemen
Zu den bedeutendsten kurzfristigen Entscheidungsproblemen bei der Gestaltung von Kanban-gesteuerten Produktionssystemen gehört die Festlegung der Anzahl der in den selbststeuernden Regelkreisen zirkulierenden Kanban-Karten. Der Planungshorizont liegt je nach Situation in etwa bei drei bis sechs Monaten. Innerhalb dieses Zeitraums sollte die Kartenzahl zugunsten eines stabilen, einfachen Steuerungsmechanismus aufgrund selbststeuernder Regelkreise relativ konstant gehalten werden. Externe Eingriffe bestehen in Kanban-Systemen also in der Änderung der Zahl der in den einzelnen Regelkreisen umlaufenden Kanban-Karten (durch Einschleusen oder Herausnehmen). Zur Festlegung der Anzahl der in den einzelnen Regelkreisen zirkulierenden Kanban-Karten und damit der für die Architektur des Kanban-Systems und seiner Leistungsfähigkeit bedeutsamsten Entscheidungsvariablen existieren folgende Lösungsvorschläge:
1. | Faustregeln wie die so genannte \'Toyota-Formel\', | 2. | mathematische Optimierungsansätze und | 3. | Heuristiken und Simulationsmodelle. |
Die sog. Toyota-Formel zur Berechnung der Kartenzahl, an die sich die Unternehmenspraxis anlehnt, geht von der zu überbrückenden Durchlaufzeit und der Nachfragegeschwindigkeit aus. Sie wird unter Berücksichtigung eines Sicherheitszuschlages zur Behälterfüllmenge in Relation gesetzt und lautet (Monden, Y. 1981; Sugimori, Y./Kusunoki, K./Cho, F. et al. 1977; Wildemann, H. 1983):
mit V = Anzahl der Kanbans D = Nachfragegeschwindigkeit (Nachfrage pro Zeiteinheit) Tw = Zwischenzeit (Transport- und Liegezeit) Tp = Produktionszeit α = Sicherheitsfaktor c = Behälterfüllmenge
Die Zeitparameter (Tw + Tp) umfassen alle zur Wiederbeschaffung eines Behälterinhalts notwendigen Zeiten. Abhängig von der Prozesssicherheit der Vorstufe wird der Sicherheitsfaktor determiniert. Betrachtet man die Nachfrage- bzw. Bedarfsgeschwindigkeit und die Behälterfüllmenge als konstant, so ist die angestrebte Minimierung der Kartenzahl und damit des Lagerbestands nur durch eine Reduktion der Durchlaufzeiten und/oder des Sicherheitsfaktors zu bewerkstelligen.
Aus der Toyota-Formel geht nicht eindeutig hervor, welche Parameter als vorgegebene, konstante Daten und welche als Entscheidungsvariablen zu betrachten sind. Alle stochastischen Einflüsse sind lediglich in sehr pauschaler Weise berücksichtigt. Stützt man sich auf durchschnittliche Vergangenheitswerte zur Ermittlung der verwendeten Durchlaufzeiten, sind die unterschiedlichen Rahmenbedingungen und Prozessparameter zu beachten. Des Weiteren beeinflusst die Entscheidung über die Anzahl der Kanban-Karten die Durchlaufzeit selbst, welche ihrerseits wiederum Bestimmungsfaktor der Kartenzahl sein soll. Mehrstufige, möglicherweise gar vermaschte Fertigungsstrukturen werden in der Toyota-Formel implizit als nicht entscheidungsrelevant erachtet, obwohl doch in realiter stets die Abstimmung und Harmonisierung aller Stufen des gesamten Produktionssystems für die Funktions- und Leistungsfähigkeit einer Kanban-Steuerung als besonders bedeutsam eingeschätzt werden. Trotz der großen praktischen Verbreitung der Toyota-Bestimmungsformel zeigte sich für konkrete Anwendungsfälle in der Unternehmenspraxis, dass mit intelligenteren Methoden um bis zu 50% geringere relevante Lager-, Rüst- und Fehlmengenkosten erzielt werden konnten (Bard, J. E./Golany, B. 1991).
Mathematische Optimierungsmodelle bilden das zu lösende Planungsproblem in ein System linearer und nicht linearer Gleichungen und Ungleichungen ab. Die für die Optimierung aufgestellten Entscheidungsmodelle zur Architektur von Kanban-Systemen unterscheiden sich im Umfang des Betrachtungsobjekts (zulässige Produktionsstrukturen, Entscheidungsvariablen) sowie in der Modellierung der relevanten Rahmenbedingungen und Zielsetzungen (vgl. insb. das Modell von Bitran, G. R./Chang, L. 1987 zur Minimierung der maximalen Lagerkosten bei Einproduktfertigung, das Modell von Bard, J. E./Golany, B. 1991 zur Minimierung der Gesamtkosten bei Mehrproduktfertigung für Montageprozesse und das Modell von Lackes, R. 1995 mit expliziter Berücksichtigung von Durchlaufzeiten für beliebige Fertigungsprozesse).
Obwohl diese Optimierungsansätze keine stochastischen Aspekte berücksichtigen, ist wegen der für die Kanban-Steuerung erforderlichen logischen Restriktionen und der bei der Umformung entstehenden binären Variablen die Lösungskomplexität sehr hoch. Optimierungsmodelle, die auch stochastische Daten, z.B. für die Endproduktnachfrage oder für Maschinenausfälle, berücksichtigen, sind aufstellbar, für praktische Problemgrößen aber nicht mehr lösbar. Erwähnt sei hier insb. das auf Markov-Prozessen aufbauende Entscheidungsmodell von Wang/Wang (Wang, H./Wang, H.-P. 1990), dessen Lösungskomplexität selbst bei einfachen Produktionsstrukturen sehr schnell hochgradig wächst und somit einen praktischen Einsatz verhindert.
Da aber gerade die Unsicherheit der Bedarfsprognosen der Kernanstoß für die dezentrale Kanban-Steuerung war, sind Überlegungen angezeigt, wie man handhabbare Lösungen unter Berücksichtigung stochastischer Einflussgrößen entwickeln kann. Hierzu bieten sich Heuristiken und Simulationsmethoden an. Zur Gestaltung des Kanban-Systems sind eine ganze Reihe von Simulationsuntersuchungen angestellt worden, die die Bedeutung unterschiedlicher Rahmendaten und Einflussfaktoren erfasst haben (vgl. insb. Gupta, Y. P./Gupta, M. 1989a u. Gupta, Y-P./Gupta, M. 1989b; Huang, P. Y./Rees, L. P./Taylor, B. W. 1983; Kimura, O./Terada, H. 1981; Lackes, R. 1995; Malek, M. 1988; Zäpfel, G./Hödlmoser, P. 1992; eine systematisierende Ergebnisübersicht findet sich in Lackes, R. 1995).
Die Simulationsmodelle zur Architektur von Kanban-Produktionssystemen können zu wirklichen EDV-gestützten Entscheidungsunterstützungssystemen erweitert werden, indem Techniken der Künstlichen Intelligenz integriert werden (Lackes, R. 1995).
VI. Kritische Würdigung
Die Grundprinzipien der Kanban-Steuerung und des Just in Time-Konzepts finden sich auch in den Ansätzen des Supply-Chain-Managments wieder, da auch hier eine bessere Koordination im Materialfluss zwischen Unternehmungen intendiert ist (Dyckhoff, /Lackes, /Reese, 2004; Lackes, 2004).
Bei einer kritischen Würdigung des Kanban-Konzeptes lassen sich folgende Nachteile feststellen (Fandel, G./François, P. 1989; Hall, R. W. 1981; Lackes, 1995; Wildemann, H. 1983):
- | Aufwand zur Implementierung der Systemarchitektur und zur Festlegung der Systemparameter, | - | Kosten zur Schaffung der Einsatzvoraussetzungen, insb. höhere Kapitalbestände im Anlagevermögen und Qualitätssicherungskosten, | - | Anfälligkeit gegenüber größeren Störungen und | - | Kapazitätsauslastungsprobleme. |
Bei Vorliegen der Einsatzvoraussetzungen sind folgende Vorteile zu erzielen:
- | Reduktion der Lagerbestände und damit der Kapitalkosten im Umlaufvermögen, | - | sichere Lagerbestandsobergrenzen und Vereinfachung der Bestandsüberwachung, | - | Reduzierung der Durchlaufzeiten und dadurch kürzere Lieferzeiten, | - | Qualitätsverbesserungen und | - | Vereinfachung der Produktionssteuerung und -planung. |
Literatur:
Bard, J. F./Golany, B. : Determining the number of Kanbans in a multiproduct, multistage production system, in: IJProdRes, 1991, S. 881 – 895
Bitran, G. R./Chang, L. : A Mathematical Programming Approach to a Deterministic KANBAN System, in: MS, 1987, S. 427 – 441
Dyckhoff, H./Lackes, R./Reese, J. : Sypply Chain Mangement and Reverse Logistics, Berlin u.a. 2004
Fandel, G./François, P. : Just-in-Time-Produktion und -Beschaffung. Funktionsweise, Einsatzvoraussetzungen und Grenzen, in: ZfB, 1989, S. 531 – 544
Gupta, Y. P./Gupta, M. : A System dynamics Model of Jit-Kanban System, in: ECPE, 1989a, S. 117 – 130
Gupta, Y. P./Gupta, M. : A system dynamics model for a multistage multi-line dual-card JIT-Kanban system, in: IJProdRes, 1989b, S. 309 – 352
Hall, R. W. : Driving the Productivity Machine, Production Planning and Control in Japan, o.O. 1981
Hall, R. W. : Zero Inventories, Homewood, Ill. 1983
Hay, E. J. : The Just-In-Time Breakthrough – Implementing the New Manufacturing Basics, New York et al. 1988
Huang, P. Y./Rees, L. P./Taylor, B. W. : A Simulation Analysis of the Japanese Just-In-Time Technique (with Kanbans) for a multiple, multistage Production System, in: DSc, 1983, S. 326 – 344
Kimura, O./Terada, H. : Design and analysis of Pull System, a method of multi-stage production control, in: IJProdRes, 1981, S. 241 – 253
Lackes, R. : Architektur von Just-in-Time-Produktionssystemen, Hagen 1994
Lackes, R. : Just-inTime-Produktion. Systemarchitektur – wissensbasierte Planungsunterstützung – Informationssysteme, Wiesbaden 1995
Lackes, R. : Information System for Supporting Supply Chain Managment, in: Supply Chain Management and Reverse Logistics, hrsg. v. Dyckhoff, H./Lackes, R./Reese, J., Berlin u.a. 2004
Lermen, P. : Hierarchische Produktionsplanung und KANBAN, Wiesbaden 1992
Malek, M. : KANBAN-gesteuerte Fertigung, Frankfurt a.M. et al. 1988
Monden, Y. : Adaptable Kanban System helps Toyota Maintain Just-in-Time Production, in: IE, H. 5/1981a, S. 29 – 46
Monden, Y. : How Toyota shortened supply lot production time, waiting time and conveyance time, in: IE, H. 9/1981b, S. 22 – 30
Monden, Y. : What makes the Toyota Production System Really Tick?, in: IE, H. 1/1981c, S. 36 – 46
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Ohno, T. : The Origin of Toyota Production System and Kanban System, in: Applying Just in Time, hrsg. v. Monden, Y., Georgia 1986, S. 3 – 8
Schonberger, R. J. : Japanese Manufacturing Techniques, New York et al. 1982
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Soom, E. : Die neue Produktionsphilosophie, Just-in-Time-Production, 2. Teil, Synchronfertigung und Kanban, in: IO, 1986, S. 446 – 449
Sugimori, Y./Kusunoki, K./Cho, F. : Toyota production system and Kanban system Materialization of just-in-time and respect-for-human system, in: IJProdRes, 1977, S. 553 – 564
Suzaki, K. : Modernes Management im Produktionsbetrieb, München et al. 1989
Wang, H./Wang, H.-P. : Determining the number of kanbans: a step towards non-stock-production, in: IJProdRes, 1990, S. 2101 – 2115
Wildemann, H. : Flexible Werkstattsteuerung durch Integration von japanischen KANBAN-Prinzipien in deutschen Unternehmen, Teil 1, Passau 1983
Wildemann, H. : JIT durch Fertigungssegmentierung, in: Just-in-time Produktion, Fallbeispielsammlung, hrsg. v. Wildemann, H., 2. A., München 1986
Zäpfel, G./Hödlmoser, P. : Läßt sich das KANBAN-Konzept bei einer Variantenfertigung wirtschaftlich einsetzen?, in: ZfB, 1992, S. 437 – 458
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