Arbeitsmarktpolitik
1. Definition und Verständnis. Die OECD versteht unter Arbeitsmarktpolitik die finanziellen Leistungen, Beratungsdienste, Maßnahmen und Institutionen, die darauf abzielen: Menge, Struktur und Qualität des möglichen und tatsächlichen Arbeitskräftepotentials aus dem In- und Ausland zu optimieren; auf dem globalen Arbeitsmarkt und seinen sektoralen, regionalen, qualifikatorischen und gruppenspezifischen Teilmärkten externer und betriebsinterner Art eine bestmög-liche, gegenseitige Anpassung von verfügbaren Arbeitskräften und Arbeitsplätzen herbeizuführen und das Arbeitskräftepotential möglichst vollständig und kontinuierlich sowie produktiv zur individuellen und gesellschaftlichen Wohlfahrtssteigerung (Wohlfahrtsökonomik ,
1.) zu nutzen. In der Bundesrepublik folgt aus ihrem Sozialstaatsgebot, dem gesellschaftlichen Stellenwert von Arbeit und Bildung bzw. Berufsausbildung und aus dem Recht auf Arbeit ein Oberziel der A.: Vollbeschäftigung; genauer, es soll im Rahmen der arbeitsmarktrelevanten Grundrechte ein hoher Beschäftigungsstand erzielt und aufrechterhalten werden. Hier besteht eine Zieleinheit zur Beschäftigungspolitik nach dem StabG . Auch die Grenzen zur Sozial- und Bildungspolitik sind fließend. Der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung hat angesichts der langjährigen, in den neuen Bundesländern noch zunehmenden Verletzung des Beschäftigungsziels die Vorteile von Vollbeschäftigung betont: Niemand hat Vorteile aus hoher Arbeitslosigkeit . Man dürfe nicht vergessen, welchen Gewinn die Zeit eines hohen Beschäftigungsstandes gebracht hat, weit über das Wirtschaftliche hinaus, Gewinn an Unabhängigkeit der Menschen, an Überwindung von Existenzangst, an Ansehen und Würde der Arbeitnehmer in den wirtschaftlichen Beziehungen, an Zustimmung zu der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Ordnung, in der wir leben. Die Gesellschaft verschiebe den Test ihrer Reife, wenn sie sich nicht zutraut, das Ziel eines hohen Beschäftigungsstandes wirklich ernst zu nehmen, etwa weil es auch Probleme gibt, mit denen ohne hohen Beschäftigungsstand leichter fertig zu werden ist. A. ist allein nicht in der Lage, mit ihren Instrumenten, Institutionen und Haushaltsmitteln dieses Oberziel zu verwirklichen.
2. Träger der A. und wichtige Maßnahmen. Es lassen sich drei Zuständigkeitsbereiche der A. bzw. Träger arbeitsmarktpolitischer Maßnahmen unterscheiden:
2. 1. Die A. der Bundesanstalt für Arbeit (BA) nach dem Arbeitsförderungsgesetz (AFG): Nach Vorläufern mit Vermittlung von Arbeits- und Ausbildungsstellen, Berufsberatung und Lohnersatz aus der Arbeitslosenversicherung wurde die Arbeitsmarktpolitik mit dem AFG 1969 in eine vorausschauende, aktive Konzeption gegossen mit dem Hauptträger BA, Landesarbeits- und Arbeitsämter. Das AFG führte den Vorrang aller vorbeugenden Maßnahmen gegenüber Leistungen bei Arbeitslosigkeit ein und brachte lebenslange Berufsförderung, intensive Arbeits-, Berufs- und Förderungsberatung sowie anfänglich auch regionale und sektorale Strukturpolitik durch Information und Mitteleinsatz, alles unterstützt durch die Umsetzung von Ergebnissen der Arbeitsmarkt- und Berufsforschung. Das AFG bestimmt, daß die Maßnahmen der A. im Rahmen der Sozial- und Wirtschaftspolitik (Theorie der Wirtschaftspolitik) der Bundesregierung darauf auszurichten sind, daß ein hoher Beschäftigungsstand erzielt und aufrechterhalten, die Beschäftigungsstruktur ständig verbessert und damit das Wachstum der Wirtschaft (Wachstumstheorie) gefördert wird. Im einzelnen hat die A. der BA folgende Zielsetzungen: - Weder Arbeitslosigkeit und unterwertige Beschäftigung noch ein Mangel an Arbeitskräften sollen eintreten oder fortdauern; - die berufliche Beweglichkeit der Erwerbstätigen soll gesichert und verbessert werden; - nachteilige Folgen für die Erwerbstätigen aus technischen Entwicklungen oder aus dem Strukturwandel sollen vermieden, ausgeglichen oder beseitigt werden;- die berufliche Eingliederung Behinderter ist zu fördern; - Frauen mit Ehe- und Familienpflichten soll bei der beruflichen Eingliederung geholfen werden; - Eingliederungshilfen sollen ältere Erwerbstätige und andere Zielgruppen erhalten; - Die Struktur der Beschäftigung nach Gebieten und Wirtschaftszweigen soll verbessert werden; - illegale Beschäftigung ist zu bekämpfen. Als Maßnahmen obliegen der BA die Berufsberatung, die Arbeitsvermittlung, die Förderung der beruflichen Bildung nach dem AFG, die Gewährung von Leistungen zur Rehabilitation, zur Erhaltung und Schaffung von Arbeitsplätzen sowie Zahlung von Arbeitslosengeld und von Konkursausfallgeld . Die BA zahlt im Auftrag des Bundes die Arbeitslosenhilfe . Sie ist häufig mit der Durchführung arbeitsmarktpolitischer Gesetze und befristeter Arbeitsmarktprogramme betraut, die aus dem Bundeshaushalt finanziert werden. Die Finanzierung der A. erfolgt hauptsächlich aus Beiträgen zur BA, die von beitragspflichtigen Betrieben und Arbeitnehmern mit je halbem Beitragssatz erbracht werden, sowie durch Umlagen für Winterbau und Konkursausfallgeld. Hinzu kommen Erträge aus der gesetzlichen Rücklage und sonstige Einnahmen . 1990 betrugen die Gesamteinnahmen rd. 43,9 Mrd EUR. Die Ausdehnung der Beitragspflicht auf alle Erwerbstätigen, ein Arbeitsmarktbeitrag und eine Verstärkung der Umlagefinanzierung sind in der Diskussion. Bei den Ausgaben wird zwischen "aktiven" und "passiven" Maßnahmen unterschie-den. Passive A. umfaßt die materielle Existenzsicherung bei Arbeitslosigkeit, vor allem durch Arbeitslosengeld aus der BA und Arbeitslosenhilfe aus Bundesmitteln. Diese Leistungen ergänzend oder als einzige Sozialleistung bei Arbeitslosigkeit gibt es auch die Sozialhilfe der Gemeinden. Bei begrenzter Leistungsdauer von Arbeitslosengeld findet hier eine Belastungsverschiebung mit den Kosten der Arbeitslosigkeit von der BA über den Bund zu den Gemeinden statt. Als aktive Maßnahmen werden die einzelnen Beeinflussungen von Ausmaß und Struktur von Angebot und Nachfrage auf dem Arbeitsmarkt bezeichnet: Beratung, Vermittlung und Information von Arbeitsuchenden und Arbeitgebern , Förderung der beruflichen Bildung, Arbeitsbeschaffung, Kurzarbeitergeld , einstellungsfördernde Maßnahmen für bestimmte Zielgruppen, berufliche Rehabilitation nach dem AFG und Maßnahmen für die Bauwirtschaft. Übersteigen die Ausgaben die Einnahmen, ist der Bund verpflichtet, das Defizit auszugleichen. Überschüsse wie 1984 und 1985 wurden im Rahmen der
7. Novelle des AFG ab 1986 für längeren Bezug von Arbeitslosengeld bis zu zwei Jahren bzw. bis zum Rentenbezug, zur noch besseren Qualifikation, insbesondere der Arbeitslosen, und zur Existenzgründung durch ein weitergezahltes Überbrückungsgeld an vormals Arbeitslose verwendet. In den 80er Jahren wurden passiv insgesamt 220 Mrd EUR für Arbeitslosengeld und -hilfe, aber lediglich 103 Mrd EUR für aktive A. ausgegeben.
2. 2. A. der Bundesregierung: Über das AFG hinaus wird von der Bundesregierung über das zuständige Bundesministerium für Arbeit- und Sozialordnung A. betrieben. In den 70er Jahren waren wichtige Beispiele der Anwerbestopp für ausländische Arbeitnehmer vom November 1973, Sonderprogramme für Mobilitätsförderung, Lohnkostenzuschüsse, Regionen mit besonderen Beschäftigungsproblemen, für Zielgruppen wie Schwerbehinderte oder bei der Berufsausbildung benachteiligter Jugendlicher. 1978 erreichten derartige Maßnahmen einen Anteil von 6% an allen aktiven Ausgaben. In den 80er Jahren bilden gesetzliche Maßnahmen den Schwerpunkt der A. seitens der Bundesregierung. Beispiele sind: Das Rückkehrförderungsgesetz für ausländische Arbeitnehmer und ihre Familien; das Vorruhestandsgesetz zur Förderung der Wiederbesetzung von Arbeitsplätzen, die vorzeitig in Rente ausscheidende Arbeitnehmer als 58-jährige für Arbeitslose oder Angelernte freimachen; das Beschäftigungsförderungsgesetz, das u.a. befristete Arbeitsverträge zur Einstellungserleichterung bietet; Appelle für mehr Teilzeitarbeit und gegen Überstunden sowie Arbeitszeitgesetze geben der A. neuerdings auch eine arbeitszeitpolitische Komponente. Gegen die Ende der 80er Jahre besonders bedrohliche Langzeitarbeitslosigkeit wurden Sonderprogramme eingesetzt. Schließlich wirkt auch die Förderung der Existenzgründung arbeitsmarktentlastend.
2. 3. A. der Tarifvertragsparteien: Teils in Ergänzung gesetzlicher Regelungen, teils aus eigener Initiative beider oder nur einer Tarifvertragspartei sucht die Verkürzung und Flexibilisierung von Arbeitszeit und Arbeitsleben, etwa durch die Tarifverträge zum Vorruhestand (flexible Altersgrenze) oder zur Verkürzung der Wochenarbeitszeit, der anhaltenden arbeitsmarktpolitischen Herausforderung gerecht zu werden.
3. Wirkungen der A. Die A. nach dem AFG kann das globale Arbeitsmarktungleichgewicht nicht beheben. Die BA-Maßnahmen führen gegenwärtig dazu, daß der Arbeitsmarkt pro Jahr um mehrere hunderttausend Personen im Sinne vermiedener Arbeitslosigkeit entlastet wird. Auch den gesetzlichen und tarifvertraglichen Maßnahmen kommen beträchtliche Arbeitsmarktwirkungen zu. Nach erheblichen Leistungskürzungen 1982ff. sind die Leistungsverlängerungen für ältere Arbeitslose ein Versuch, auch der sozialen Sicherungsfunktion der A. gerecht zu werden. Die A. bleibt flankierend und für eine entscheidende Arbeitsmarktentlastung sowie soziale Sicherung auf eine Gesamtpolitik für Vollbeschäftigung, berufliche Bildung und Arbeitszeitverkürzung angewiesen. Die A. ergänzt diese Ansätze vor Ort, in Problemregionen und -branchen sowie bei besonderen Zielgruppen. Die Beschäftigungskatastrophe in den neuen Bundesländern soll durch verstärkten Einsatz aller AFG-Instrumente gemildert werden.
Literatur: G. Bruche/J. Kühl, Chronik zur Arbeitsmarktpolitik. Beiträge zur Arbeitsmarkt- und Berufsforschung 99. Nürnberg 1986. U. Engelen-Kefer/J. Kühl/P. Peschel, Beschäftigungspolitik.
3. A., Köln 1990. J. Kühl, Das Arbeitsförderungsgesetz (AFG) von 1969. Grundzüge seiner arbeitsmarkt- und beschäftigungspolitischen Konzeption, in: Schwerpunktheft Arbeitsmarktpolitik der Mitteilungen aus der Arbeitsmarkt- und Berufsforschung 3, 1982. G. Bruche/B. Reissert, Die Finanzierung der Arbeitsmarktpolitik. Frankfurt/Main, New York 1985. J. Kühl, Beschäftigungs- und Arbeitsmarktpolitik in den 1970er und 1980er Jahren. Beiträge zur Arbeitsmarkt- und Berufsforschung 137. Nürnberg 1990, 15-40.
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