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Wachstumstheorie


1. Grundlagen: Unter wirtschaftlichem Wachstum versteht man gemeinhin die Zunahme des realen Sozialprodukts zwischen sukzessiven Zeitperioden. Die Wachstumsrate bezeichnet den prozentualen Anstieg des Sozialprodukts. Allein schon mit Blick auf die verschiedenen Produktsbegriffe der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung (Volkseinkommen, Bruttoinlandsprodukt (Inlandsprodukt) etc.) ergeben sich unterschiedliche Indikatoren des Wachstums. Darüber hinaus können die Umstände der Untersuchung die Wahl eines geeigneten Wachstumsindikators erfordern. Erscheint es z.B. im Rahmen eines internationalen Vergleichs von Wachstumsprozessen als sinnvoll, die Veränderungen der Bevölkerungen (Bevölkerungstheorie) zu berücksichtigen, wird man das Pro-Kopf-Einkommen als Indikator benutzen. Neuerdings stellt sich auch das Problem, ob nicht Umweltaspekte bei der Festlegung des Wachstumsbegriffes einbezogen werden müssen. Somit folgt, daß eine allgemein verbindliche Definition des Wirtschaftswachstums nicht existiert. Die Wahl des Indikators ist eine Frage der Zweckmäßigkeit. Die W. konzentriert sich auf die Erklärung vor allem des langfristigen Wachstums der entwickelten Volkswirtschaften . Damit steht sie i. Ggs. zur Konjunkturtheorie , die die kurzfristigen Veränderungen der Sozialproduktsgrößen in den Vordergrund stellt. Mit der verstärkten Hinwendung zu Wachstumsanalysen in der Nachkriegszeit kommt es zur Rückbesinnung auf die Dogmengeschichte der Volkswirtschaftslehre . Von den Klassikern (A. Smith, D. Ricardo, T. R. Malthus, J. St. Mill) (Klassische Wachstumstheorie), K. Marx (Marxistische Wachstumstheorie) und J. M. Keynes wird ein düsteres Bild von der langfristigen Entwicklung der Produktion nahegelegt. Dabei beziehen sie sich sowohl auf die Angebotsseite als auch auf die Nachfrageseite der volkswirtschaftlichen Märkte , allerdings mit sehr unterschiedlicher Gewichtung der Erklärungselemente beider Seiten. Während die Klassiker den Übergang des Wachstumsprozesses in den stationären Endzustand vor allem angebotsseitig durch die Knappheit des Produktionsfaktors Boden (Ertragsgesetz) erklären, gelangt die im Anschluß an Keynes von A. H. Hansen formulierte Stagnationstheorie zu dem Ergebnis, daß insbesondere die zunehmende Sättigung der Konsumgüternachfrage zu permanenter Unterbeschäftigung führt. Sieht man von jeweils kurzfristig möglichen Nachfrageausfällen und damit einer wichtigen Ursache des Konjunkturgeschehens ab, kann die Erweiterung des Produktionspotentials (Kapazität) als angebotsseitiges Maß für das Wachstum genommen werden. Die ökonomischen Determinanten dieses Wachstums sind die Mengenausweitungen der Produktionsfaktoren Arbeit und Kapital sowie die Qualitätsverbesserungen der Inputs durch technischen Fortschritt (makroökonomische Produktionsfunktion). Dabei handelt es sich um einerseits ungebundenen technischen Fortschritt, der Verbesserungen der Faktorkombinationen bewirkt (z.B. organisatorischer Fortschritt) und andererseits gebundenen technischen Fortschritt, der Verbesserungen der Qualität der einzelnen Faktoren erlaubt (z.B. Qualitätsfortschritt bei Kapitalgütern (Gut)).
2. Moderne W. Als Modelltheorie (Modelle, Theorie) ist sie aus der Kritik an der Keynesschen Beschäftigungstheorie (Keynessche Theorie) hervorgegangen. Insbesondere konfrontiert sie den Einkommenseffekt der Investitionen mit ihrem von Keynes vernachlässigten Kapazitätseffekt derart, daß die dominierende Frage nach den Bedingungen für die Existenz und Stabilität eines makroökonomisch-dynamischen Gleichgewichts beantwortet werden kann. Damit steht die Kapitalbildung im Zentrum der Überlegungen. Wenn ein solches Gleichgewicht gegeben ist, dann wachsen alle Variablen stetig mit derselben konstanten Rate (exponentielles Wachstum). Daneben werden Anpassungs- und Übergangsprozesse betrachtet sowie alternative Gleichgewichtspfade der Variablen verglichen. In Ergänzung zur Modelltheorie sollten die historisch-deskriptive Forschung (W. A. Lewis, W. W. Rostow(Stufenprognose)) und die empirisch-statistische Wachstumsanalyse (S. S. Kuznets, R. Goldsmith, W. G. Hoffmann) herangezogen werden, um die Relevanz der gewonnenen theoretischen Ergebnisse zu überprüfen. Als wesentliche Teilgebiete der Modellbildung werden heute die postkeynesianische und neoklassische W. angesehen. Die postkeynesianische W. ist von R. F. Harrod (1939) und E. D. Domar (1946) begründet worden. Das Modell von Harrod (Harrod-Modell) läßt sich durch folgende Beziehungen repräsentieren:
(1)         Gleichgewichtsbedingung (Gleichgewicht,
3.) des Gütermarktes :Nettoinvestition (= Zunahme des Kapitalstocks) ex-ante gleich Ersparnis (= rechnerisches Produkt aus konstanter Sparquote und Realeinkommen);
(2)         Funktion der Nettoinvestition in Form der Akzeleratorrelation (Akzelerator = konst.);
(3)         Gleichgewichtsbedingung des Arbeitsmarktes (Forderung der Vollbeschäftigung): Arbeitsnachfrage gleich Arbeitsangebot (Zunahme des Angebotes mit der konstanten "natürlichen" Wachstumsrate);
(4)         linear-limitationale Produktionsfunktion (ohne technischen Fortschritt) bezüglich der Faktoren Kapital und Arbeit (Arbeitsnachfrage gleich rechnerisches Produkt aus Arbeitskoeffizient und Realeinkommen). Das Gleichgewichtswachstum ist dadurch gekennzeichnet, daß das Einkommen und der Kapitalstock mit der "befriedigenden" Rate (= Quotient aus Sparquote und Akzelerator) wachsen, die zur Sicherung der Vollbeschäftigung mit der natürlichen Wachstumsrate übereinstimmen muß. Ferner muß gelten, daß das Verhältnis der Faktormengen im Ausgangszustand gleichgewichtig ist. Zu formal demselben Ergebnis kommt das Modell von Domar (Domar-Modell), das sich im wesentlichen vom Harrod-Modell dadurch unterscheidet, daß es die Gleichgewichtsbedingung des Kapitalmarktes anstelle der Investitionsfunktion (Investitionstheorie) aufweist (der technisch determinierte Kapitalkoeffizient ersetzt den Verhaltensparameter Akzelerator). Harrod und Domar schließen  wenn auch aufgrund unterschiedlicher Überlegungen, daß das dynamische Gleichgewicht instabil ist. Obwohl für Harrod gleichgewichtiges Wachstum bei Vollbeschäftigung vorstellbar erscheint, muß die Übereinstimmung von befriedigender und natürlicher Wachstumsrate wg. der unabhängigen Festlegung der Determinanten der Wachstumsraten als unwahrscheinlich gelten. Ist z.B. die natürliche Rate größer als die befriedigende Rate, dann stellt sich Arbeitslosigkeit ein. Dieses Problem der säkularen Instabilität ist durch die modellendogene Erklärung der Sparquote, des Kapitalkoeffizienten und der Wachstumsrate des Arbeitsangebotes zu lösen versucht worden (N. Kaldor, J. Robinson, R. G. D. Allen, H. Leibenstein, J. Niehans). Ferner hebt Harrod hervor, daß Abweichungen zwischen tatsächlicher und befriedigender Wachstumsrate zu kumulativen Prozessen führen ("Wachstum auf des Messers Schneide"). Erhöht sich z.B. die Sparquote ausgehend von einer Gleichgewichtssituation, so liegt die für das Gleichgewicht erforderliche Rate nun über der tatsächlichen Rate. Diese Situation der konjunkturellen Instabilität impliziert, daß ex-ante die Ersparnis größer als die Nettoinvestition ist, so daß bei kurzfristiger Anpassung der Investition an den ungenutzten Kapitalstock ein Kontraktionsprozeß entsteht (W. Phillips): die Überschußkapazität nimmt laufend zu (Harrod-Paradoxon). Insbesondere die geschilderten Stabilitätsprobleme bilden den Ansatzpunkt für die neoklassische W., die auf J. Tobin (1955), T. W. Swan (1956) und vor allem R. M. Solow (1956) zurückgeht, auf dessen Grundmodell hier Bezug genommen wird. Vergleicht man das Modell von Solow mit dem von Harrod, so entfällt die Investitionsfunktion, und die Produktionsfunktion wird als substitutional und linear-homogen angenommen (aus dieser Funktion ergibt sich die Arbeitsnachfrage unmittelbar). Dieser Ansatz wird in die neoklassische Welt der vollständigen Konkurrenz im umfassenden Sinne eingebettet. Das Modellergebnis läßt sich wie folgt zusammenfassen: Die gleichgewichtige Wachstumsrate ist die natürliche Wachstumsrate, die von Ausnahmen abgesehen mit der Wachstumsrate für Einkommen und Kapitalstock im Gleichgewicht (= Quotient aus Sparquote und Kapitalkoeffizient) übereinstimmt. Diese Gleichgewichtsrate ist von der Sparquote unabhängig. Änderungen der Sparquote werden durch den variierenden Kapitalkoeffizienten derart kompensiert, daß die gleichgewichtige Rate erhalten bleibt. I.d.R. existiert keine säkulare Instabilität. Ebenfalls gibt es nicht das Problem der konjunkturellen Instabilität wg. des Fehlens der Investitionsfunktion und der angenommenen Funktionsfähigkeit des Preismechanismus . Wenn auch die Sparquote bzw. Investitionsquote keinen Einfluß auf die gleichgewichtige Wachstumsrate hat, so bestimmt sie doch das Niveau des Einkommenspfades im Gleichgewicht. Eine der alternativ möglichen Investitionsquoten ist in dem Sinne optimal, daß sie den Konsum der einzelnen Perioden maximiert. Die Aussage, daß diese Investitionsquote gleich der Produktionselastizität (Elastizitäten) des Kapitals ist, gilt als "goldene Regel der Akkumulation" (E. S. Phelps, J. E. Meade, C. C. von Weizsäcker). Um vor allem Veränderungen des Pro-Kopf-Einkommens erklären zu können, wird der technische Fortschritt in ungebundener oder gebundener Form als weiterer Produktionsfaktor in der postkeynesianischen und neoklassischen W. berücksichtigt. Dabei begründet man die Existenz des technischen Fortschritts entweder als unabhängig (autonom) oder abhängig (induziert) von anderen Modellvariablen (induzierter technischer Fortschritt: technical progress function (N. Kaldor), invention possibility frontier (C. Kennedy, C. C. von Weizsäcker), learning-by-doing (K. J. Arrow)). Die Wirkungen des technischen Fortschritts auf das Verhältnis der Faktoreinsatzmengen werden als neutral, arbeits- oder kapitalsparend klassifiziert (J. R. Hicks, R. F. Harrod, R. M. Solow; technischer Fortschritt,
3.).
3. Erweiterungen. Die vorgestellten Wachstumsansätze sind allgemein und speziell kritisiert worden. Aus der Kritik haben sich folgende wichtige Forschungsrichtungen der W. ergeben: Verbindung zur Konjunktur -, Verteilungs- und Bevölkerungstheorie ; Disaggregation in sektoraler und regionaler Hinsicht; Ergänzung durch die Bereiche Staat und Außenwirtschaft; Einbeziehung unvermehrbarer Produktionsfaktoren; Berücksichtigung des Geldes ; Einführung von Zielfunktionen im Sinne der dynamischen Wohlstandökonomik .

Literatur: W. Krelle, Theorie des wirtschaftlichen Wachstums. Berlin 1985. R. Ramanathan, Introduction to the Theory of Economic Growth. Berlin 1982. H.-J. Vosgerau, Art. Wachstumstheorie II: neoklassische, in: Handwörterbuch der Wirtschaftswissenschaft, Bd. 8, Stuttgart 1980, 492-512.

 

 


 

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