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Entscheidungsprozesse in Organisationen


Inhaltsübersicht
I. Systemmerkmale von Organisationen
II. Prozessmerkmale von Entscheidungen
III.  Verhaltensanomalien als Rationalitätsfallen

I. Systemmerkmale von Organisationen


Organisationen jedweder Art, also etwa Unternehmungen, politische Parteien, militärische oder wissenschaftliche sowie kirchliche Institutionen, sind in ihrem Verhalten und Handeln schwer zu verstehen, wenn man sie nicht als jeweils spezifische Entscheidungssysteme begreift. Bei aller funktionaler Unterschiedlichkeit sind Organisationen übereinstimmend gekennzeichnet durch drei verhaltensbestimmende Merkmale: Zielgerichtetheit, Strukturiertheit und Interaktivität. Diese Merkmale bilden zugleich die Voraussetzungen und Begrenzungen der institutionalen Entscheidungsprozesse.

1. Zielgerichtetheit


Organisationen werden geschaffen und gestaltet, um „ artgerechte “ Ziele zu erreichen. Diese äußern sich in grundlegenden Werthaltungen, instrumentellen Zwecksetzungen und maßgebenden Effizienzkriterien. Ihre Entscheidungsrelevanz besteht insb. bzgl. der Suche und Priorisierung von Handlungsalternativen.

2. Strukturiertheit


Organisationen besitzen eine graduell unterschiedlich tiefe aber prinzipiell hierarchische Struktur. Diese ist von elementarer Bedeutung für die Zuweisung von Entscheidungskompetenzen an Instanzen, für die Delegation von Entscheidungen sowie für die entsprechende Verantwortung. Außerdem wird durch die jeweilige Struktur das interne Kommunikationsnetz fixiert.

3. Interaktivität


Organisationen können letztlich nur erfolgreich operieren, wenn sie nach innen mit den Fachressorts und Mitgliedern sowie nach außen mit den marktlichen und gesellschaftlichen Umweltakteuren kommunizieren. Auf diese Weise werden entscheidungsrelevante Informationen zu Wissen akkumuliert und die handlungsrelevante Koordination wird durch Zielvorgaben und Verhaltenssteuerung gesichert.

II. Prozessmerkmale von Entscheidungen


Die empirische Organisations- und Entscheidungsforschung hat bereits früh und wiederholt versucht, ein Ablaufmuster für Entscheidungen zu ermitteln. Für Individualentscheidungen konnte Thomae (Thomae, Hans 1960) einen charakteristischen Phasenverlauf von der Anregung über die Unorientiertheit zur Orientierung, Distanzierung und schließlich zum Entschluss feststellen. Witte (Witte, Eberhard 1968) hat diese Befunde als Hypothese für die Analyse innovativer, komplexer und arbeitsteiliger Entscheidungen in Unternehmen transferiert. Die Ergebnisse bestätigten zwar nicht Thomaes Resultate, zeigten aber gleichwohl ein klares, wenn auch anderes Verlaufsbild: Informationssuche, Alternativensuche, Bewertungen und Entschlüsse, allerdings nicht mit einem jeweils zeitlichen Schwerpunkt, sondern alle vier Aktivitäten traten während des gesamten Problemlöseprozesses (nahezu) gleichmäßig auf. Beide Arten von Befunden geben aber keine Optimierungshinweise zur Prozessgestaltung, denn Fehlentscheidungen oder Entscheidungsrevisionen konnten – aus mehreren Gründen – nicht erfasst werden.
Eine umfassende Prozessanalyse kann sich jedoch nicht auf die oben erwähnten Vorstufen von Entschlüssen beschränken, sondern sollte noch eine vorgelagerte Notwendigkeit zur Gewährleistung hoher Entscheidungsqualität beachten: eine adäquate Problemanalyse vor Eintritt in den eigentlichen Prozess.

1. Problemanalyse


Inwieweit sich Menschen als Individuum und/oder als Bestandteil von Institutionen bei Konfrontation mit einem Entscheidungsproblem tendenziell rational oder eher intuitiv verhalten, hängt von der jeweiligen Problemwahrnehmung ab. Die hieraus resultierende Problemeinschätzung und nicht das Problem an sich steuert die Art und Intensität des Entscheidungsverhaltens. Eine sachgerechte Entscheidung setzt jedoch eine systematische Problemanalyse voraus. Dies umso mehr, als ein objektiv gegebenes Problem in der Sichtweise disziplinär und/oder funktional unterschiedlich geprägter Entscheidungsbeteiligter zu erheblich unterschiedlicher Problemeinschätzung führen kann. In besonderer Weise gilt dies bei Führungsentscheidungen, die aus guten Gründen nicht von Einzelpersonen getroffen werden (sollten). Um Entscheidungsprozesse in Organisationen sachgerecht verankern und koordinieren zu können, ist es unerlässlich, drei Basismerkmale von Entscheidungen auf ihre jeweilige Beschaffenheit hin zu überprüfen: die Bedeutung, die Komplexität sowie die Dringlichkeit des anstehenden Problems (vgl. Bronner, Rolf 1999).
Die Bedeutung einer Entscheidung ergibt sich aus ihrer materiellen Wertigkeit in Form des Umfanges an finanziellen Bindungen für das Unternehmen. Hinzu kommt die zeitliche Reichweite, also der Wirkungshorizont einer Maßnahme. In ähnlicher aber nicht identischer Weise ist die Reversibilität einer Entscheidung bedeutungsrelevant. Geringe oder fehlende Korrekturmöglichkeiten bei Fehlentwicklungen verschärfen das Problem. Schließlich ist noch die personelle Betroffenheit zu nennen, die sich für die Folgenträger einer Entscheidung ergibt. Führungsentscheidungen sind also meist finanziell hochwertig, zeitlich weit reichend, selten oder nur schwer revidierbar und oft mit erheblichen persönlichen Konsequenzen verbunden.
Die Komplexität einer Entscheidung resultiert unmittelbar aus ihrem jeweiligen Ressortbezug. Ressortübergreifende Fragen sind wegen unterschiedlicher Sichtweisen, Interessen und Wertungen generell komplexer als ressortinterne Probleme. Ein weiterer Einflussfaktor ist die absolute oder relative Neuartigkeit einer Thematik, also die Einmaligkeit, Erstmaligkeit oder Seltenheit einer Entscheidung. Das Ausmaß an Erfahrung bestimmt die subjektive Komplexität. Nicht zuletzt ist noch das Problemvolumen der Entscheidungsaufgabe maßgeblich, die Anzahl und Vielfalt der Alternativen, Informationen und Urteilskriterien.
Die Dringlichkeit einer Entscheidung ist zunächst das Ergebnis von Ressourcenknappheit. Knappheit kann hier in zeitlicher, personeller oder informatorischer Hinsicht verstanden werden. Eine weitere Ursache von Dringlichkeit sind Terminbindungen. Bei Überschreiten einer Frist kann es zu Konventionalstrafen kommen oder es werden Ausschlusstermine verletzt. Schließlich ist noch eine psychische Quelle von Dringlichkeit zu nennen – faktischer oder vermuteter Zeitdruck mit der Folge von Stress. Dessen empirisch nachgewiesene Folge ist massiver Leistungsabbau hinsichtlich Information, Kommunikation und Arbeitsqualität mit erheblichen negativen Wirkungen auf die Entscheidungsqualität (vgl. Bronner, Rolf 1973).
Je bedeutungsvoller, je komplexer und je dringlicher ein Entscheidungsproblem ist, umso höher sind die Anforderungen an die Koordination des Entscheidungsprozesses in inhaltlicher, personeller sowie zeitlicher Hinsicht.

2. Informationsverarbeitung


Entscheidungsprozesse sind in ihrem Kern Informationsverarbeitungsprozesse und Organisationen sind nicht nur, aber auch Informationsverarbeitungssysteme. Selbst wenn man unterstellt, dass institutionelle Entscheidungen auf einem höheren Rationalitätsniveau verlaufen als individuelle Entscheidungen, gilt doch grundsätzlich das Prinzip der begrenzten Rationalität. Das bedeutet, Organisationen sind wie Personen nur eingeschränkt bereit und befähigt, Informationen zu suchen und sachgerecht zu verarbeiten. Die Ursachen dafür sind vielfältig, aber im Wesentlichen handelt es sich um organisatorische und kognitive Barrieren.
Organisatorisch-technische Barrieren stehen einer entscheidungsgerechten Informationsverarbeitung oft im Wege, weil hierarchie- oder funktionsbedingte Zugangssperren den Rückgriff auf notwendige Informationen verwehren. Diesen Problemen versucht man, beginnend mit frühen Entwürfen von Management-Informations-Systemen (MIS) und neueren Konzepten von Decision-Support- oder Executive-Information-Systemen (DSS, EIS) entgegenzutreten. Noch massiver wirken geistig-kognitive Barrieren einer angemessenen Informationsverarbeitung zuwider. Solche intellektuellen Grenzen äußern sich sowohl in quantitativer wie in qualitativer Hinsicht. Zum einen ist die Informationsverarbeitung an die mentale Kapazität von Individuen gebunden. Außerdem erschweren prinzipielle Unsicherheiten eine rationale Informationsverarbeitung: Entscheidungen werden für die Zukunft getroffen, gegründet auf Informationen, die bestenfalls die Gegenwart repräsentieren. Prognosen, Erwartungen oder Szenarien als Abbild der Zukunft sind zwangsläufig mit verschiedenen Graden der Ungewissheit oder des Risikos verbunden. Vor diesem Hintergrund erweist sich Informationsverarbeitung als ein recht komplexer Sachverhalt. Er setzt voraus, dass man sich mit zumindest zwei Teilproblemen näher befasst: dem Informationsbedarf und der Informationsquelle.
Der Bedarf an Informationen erweist sich bei näherer Betrachtung als eine wichtige und schwierige Komponente der Entscheidungsfindung. Die Gewinnung von Informationen durch gezielte Nachfrage setzt Wissen voraus darüber, wer, wo, welche und wie beschaffene Information bereithält. Nicht nur die Informationsverarbeitung, sondern bereits die vorgeschaltete Informationsnachfrage setzt daher freie geistige und zeitliche Kapazität voraus. Bedürfnis, Bedarf und Nachfrage nach Informationen sind keineswegs selbstverständlich. Wissenschaftliche Untersuchungen haben ergeben, dass ein unter günstigen Umständen bereitgehaltenes Informationspotenzial, einem Informationssystem, einer Datenbank oder einer Methodenbank, durchschnittlich zu 10%, maximal jedoch zu etwa 20% genutzt wird. Aus den gleichen Untersuchungen geht allerdings auch die Aussage hervor, dass Informations-Nachfrageverhalten effizienzwirksam ist und gelernt werden kann (vgl. Witte, Eberhard 1972).
Die Quelle von Informationen ist nicht nur ein Problem der Ortung, sondern auch der Einschätzung: Die Bedeutung und Zuverlässigkeit von Informationen werden abgeleitet aus der mutmaßlichen oder tatsächlichen Autorität der Informationsquelle. Dies wäre nicht problematisch, wenn Autorität ein objektiver Sachverhalt wäre. Tatsächlich aber kann Autorität und damit der Wert von Informationen durch systematische Manipulation beeinflusst werden.

3. Alternativenwahl


Die Handhabung von Alternativen ist wie die Informationsverarbeitung eine zentrale Aufgabe innerhalb von Entscheidungsprozessen. Sie ist der Informationsverarbeitung keineswegs zwingend nachgelagert, sondern kann durchaus der Anlass für Informationsmaßnahmen sein. In Analogie zur materiellen Produktion könnte man die Alternativen als „ Rohstoffe “ der geistigen Produktion von Entscheidungen auffassen: Alternativen sind nicht ohne weiteres gegeben, sondern müssen gesucht und erschlossen, bearbeitet und verändert, miteinander kombiniert oder auf Unverträglichkeiten geprüft werden. Dies ist alles mit kognitivem, zeitlichem und finanziellem Aufwand verbunden. Als Ergebnis erzielt man eine höhere Verwertungs- und Entscheidungsreife der Alternativen; das schließt den Wegfall ursprünglich erwogener Optionen mangels Eignung ein. Im Rahmen einer systematischen Alternativenwahl stellen sich drei Grundprobleme: die Gewinnung, die Anzahl sowie die Konsequenzenbewertung von Alternativen.
Die Gewinnung von Alternativen fällt einerseits nicht so leicht wie oft vermutet wird, andererseits existieren hierzu speziell einsetzbare Instrumente. Nicht jede Person oder Institution ist in gleicher Weise begabt, neue, eigenwillige Handlungswege zu erkennen. Deshalb wurden Verfahren zur Unterstützung der kreativen Fähigkeiten von Individuen und Gruppen entwickelt, um Beharrungstendenzen, habituelles Verhalten oder habituelle Entscheidungen zu vermeiden.
Die Anzahl von Alternativen stellt ein Folgeproblem der Gewinnung dar. Individuen und Institutionen wollen und können nicht unendlich lange nach Alternativen suchen. Zur Frage aber, wann der optimale Zeitpunkt gekommen ist, die Suche nach weiteren Alternativen einzustellen, gibt es keine befriedigende Antwort. Empirische Untersuchungen haben gezeigt, dass selbst oder gerade in wichtigen, komplexen Entscheidungssituationen nur wenige Alternativen in Betracht gezogen werden (vgl. Hauschildt, Jürgen et al. 1983, S. 174 ff.).
Alternativen werden letztlich durch ihre Konsequenzen beschrieben und sind deshalb auch nur durch deren Beurteilung entscheidungsrelevant. In der Realität bereitet es jedoch beträchtliche Schwierigkeiten, die Konsequenzen von Alternativen eindeutig und zuverlässig zu bestimmen. Dies gilt v.a. dann, wenn es sich um komplexe und/oder dynamische Entscheidungssituationen handelt. Solche sind gekennzeichnet durch die Notwendigkeit, zahlreiche Faktoren in kausal und zeitlich mehrstufigen Zusammenhängen zu beachten. Hier versucht man mit Methoden der Systemanalyse und Kybernetik sowie der Kausal- und Sensitivitäts-Analyse Lösungen näher zu kommen, zumindest aber ein angemesseneres Problemverständnis zu gewinnen (vgl. Bronner, Rolf 1999).
Mit Blick auf Erfolg oder Misserfolg von Beschlüssen müssen noch zwei weitere Maßnahmen Beachtung finden, die hier aber nicht als Prozessmerkmale von Entscheidungen i.e.S. verstanden werden: Aktionsvollzug und Ergebnisanalyse. Beim Aktionsvollzug geht es um die Umsetzung und Durchsetzung der inhaltlichen Entscheidung in tatsächliches Handeln. Verhindert werden sollen Verzerrungen oder Verzögerungen v.a. bei programmatischen und zeitkritischen Entscheidungen durch die strukturellen und/oder personellen Bedingungen des Hierarchie- und Delegationssystems. Durch Ergebnisanalyse soll sichergestellt werden, dass Fehlentwicklungen und Fehlentscheidungen möglichst frühzeitig sowie nach Ausmaß und Ursächlichkeit erkannt werden. Effiziente Ergebnisanalyse muss stets sowohl präventiv als auch interventorisch ausgerichtet sein. Ziel ist es, ein vitales Bewusstsein für die Gefahren und Folgen sowie für die Revidierbarkeit und Verantwortung bei Fehlentscheidungen zu institutionalisieren. Eine solche Konzeption eines „ Entscheidungs-Controllings “ dient der Sicherung eines Höchstmaßes an Rationalität und im Besonderen der Vermeidung oder Korrektur von Verhaltensanomalien.

III. Verhaltensanomalien als Rationalitätsfallen


Organisationen sind trotz ihrer formalisierten Systemmerkmale nicht prinzipiell fehlerresistenter als Individuen. Dies gilt umso mehr, je stärker Entscheidungen, etwa wegen ihrer strategischen Bedeutung, als „ Chefsache “ dem spezifischen Einfluss einer Spitzenführungskraft unterliegen. Die Gefahr von Verhaltensanomalien ist dann besonders hoch und zwar nicht ausschließlich in der Person des Machtpromotors begründet, sondern ergänzt und verstärkt durch Verhaltensmuster seines engeren fachlichen und personellen Umfeldes.

1. Entscheidungspathologien


In zum Teil drastischer Deutlichkeit und mit massiven Folgen treten Entscheidungspathologien in praktisch allen Bereichen der Ökonomie, der Ökologie, der Politik und des Militärs auf. In diesem Sinne könnte man solche Effekte als universell bezeichnen. In komplexen Entscheidungsprozessen ist mit drei nicht überschneidungsfreien Verhaltensanomalien zu rechnen: Informationspathologien, Interaktionspathologien und Bewertungspathologien.

a) Informationspathologien


Die zentrale Informationspathologie ist eine zu geringe Informationsnachfrage. Logisch und zeitlich vorgelagert tritt der Informationsbedarf, nachgelagert die Informationsverarbeitung als potenzielle Fehlerquelle auf (vgl. Scholl, Wolfgang 1992). Maßgeblich für das qualitative Niveau dieser drei Problemlösebedingungen sind zwei personelle Faktoren der Entscheidungsperson oder des Entscheidungsgremiums, das Selbsturteil sowie das Problemurteil.
Das Selbsturteil oder Selbstkonzept einer Entscheidungsperson, einer Gruppe oder einer ganzen Institution beeinflusst den Informationsbedarf, also die empfundene Notwendigkeit, sich informieren, beraten und unterstützen zu lassen. Außerdem beeinflusst das Selbsturteil noch das Problemurteil, d.h. die Wahrnehmung der Komplexität einer anstehenden Entscheidungssituation. Da Führungskräfte aus zahlreichen Gründen – der bisherige Erfolg ist einer davon – dazu tendieren, ein positives Selbsturteil zu besitzen, entstehen zwei parallele Gefahren: Das Problemurteil fällt zu positiv aus und der Informationsbedarf wird daher nicht erkannt oder unterschätzt und nicht formuliert.
Naturgemäß führt eine unzulängliche Informationsnachfrage zu einer schwachen Informationsversorgung und über diese zu einer unzureichenden Informationsverarbeitung. Wenn dann noch weitere inhaltliche Verzerrungen hinzu treten, sind Fehlentscheidungen geradezu vorprogrammiert. Eine dieser Verzerrungen stammt aus der Einschätzung der Informationsquelle(n). Mangelndes aber auch überhöhtes Vertrauen in die Informationsquelle kann zu beträchtlichen Fehleinschätzungen der Entscheidungssituation führen: Ein bekanntes Phänomen ist dabei das sog. „ Group Think “ , eine extreme Überschätzung gruppeneigener Informationen und Meinungen bei gleichzeitiger Unterschätzung von externen, speziell von gegnerbezogenen Informationen (vgl. Janis, Irving 1982; Auer-Rizzi, Werner 1998). Schließlich sei noch auf den Problembereich der selektiven Wahrnehmung und Verarbeitung von Informationen verwiesen. Die Repräsentativitäts- und Verfügbarkeits-Heuristiken beschreiben Effekte, Informationen entsprechend ihrer wahrgenommenen Ähnlichkeit und ihrer kognitiven Verfügbarkeit, die sich aus dem Zeitpunkt und/oder der Häufigkeit ihres Zuganges bestimmt, als unterschiedlich relevant einzuschätzen (vgl. Kahneman, Daniel/Slovic, Paul/Tversky, Amos 1982). Gemeinsam ist diesen Urteilsverzerrungen, dass objektive Sachverhalte subjektiv relativiert werden durch einen Vergleich mit bereits gespeicherten Informationen.

b) Interaktionspathologien


Komplexe Entscheidungen werden in aller Regel nicht von Individuen getroffen, sondern von Gruppen oder Gremien in arbeitsteilig gemeinschaftlicher Form. Damit wird der Informationsaustausch zu einer weiteren Schlüsselvariable der Qualität und Dauer von Entscheidungsprozessen. Im Zusammenhang mit hohen Ausprägungen interaktiver Fähigkeiten trifft man häufig auf das Phänomen des sog. Commitment. Dies beinhaltet eine aktive bis aggressive Form der gezielten öffentlichen Deklaration einer spezifischen Zielsetzung. Sie bewirkt nicht nur eine Selbstbindung, sondern versucht v.a. Andere auf die eigene Linie einzuschwören, also eine breite und möglichst stabile Fremdbindung zu erwirken. Solche Effekte treten dann besonders hervor, wenn es darum geht, die Basis zu mobilisieren, Vertrauen und Solidarität zu sichern und/oder einem Gegner Entschlossenheit und Geschlossenheit zu demonstrieren. In extremer Überspitzung führen derartige Verhaltensweisen zu „ Escalation of Commitment “ (vgl. Staw, Barry M. 1997), es gibt dann keinen Weg mehr zurück: Um die Richtigkeit des Proklamierten zu beweisen, Glaubwürdigkeit zu wahren oder Kompetenzzweifel zu vermeiden, werden Warnsignale missachtet, objektive Informationen selektiv umbewertet, interne Widersacher ausgegrenzt und externe Gegner diffamiert. Zwangsläufig und tragischerweise wird dadurch die Ausgangslage nicht einfacher. Sie eskaliert stattdessen zu massiven Fehlentscheidungen: Im betrieblichen Bereich entstehen nur schwer oder nicht mehr reversible Strategiefehler und – verstärkt durch das sog. Sunk-Cost-Phänomen – enorme Fehlinvestitionen.

c) Bewertungspathologien


Das Verhalten des Menschen ist stets durchzogen von teils bewussten teils unbewussten Bewertungsprozessen. Manche Urteile werden sehr rasch getroffen, andere Einschätzungen erfolgen behutsam und gründlich. Im Vergleich erfolgen letztere in der Regel mit einer höheren Konsistenz und sind mit einer höheren Einsicht des Entscheiders in den Entscheidungsprozess verbunden (vgl. Schwaab, Carsten 2003).
Insbesondere situative Rahmenbedingungen bilden eine Verzerrungsursache bei komplexen Entscheidungen. Sie beeinflussen den individuellen und kollektiven Umgang mit Risiko: Menschen verhalten sich in Verlustsituationen eher risikofreudig und tendieren in Gewinnsituationen zu Risikoaversion. Auf institutioneller Ebene wird dieses Phänomen als Risiko-Rendite-Paradoxon bezeichnet. In ihrer wohl dramatischsten Form der Bewertungs- und Verhaltens-Asymmetrie tritt die sog. Verlust-Eskalation hervor: Sie äußert sich in oft existenzbedrohender Bereitschaft, defizitäre Projekte weiterzuführen. In einer schwer trennbaren Überlagerung von Uneinsichtigkeit und Beharrungstendenz, Optimismus und Fehleraversion wird gutes Geld schlechtem hinterher geworfen (vgl. Wiemann, Volker 1998). Tragischerweise treten diese Pathologien v.a. bei großen und imagebehafteten Vorhaben auf.
Zusammenfassend ist festzuhalten, dass Entscheidungspathologien sich auf unterschiedlichste Komponenten des Entscheidungsprozesses einzeln und in ihrem Zusammenhang beziehen können. Einheitliches Ergebnis ist die massive Gefahr von Fehlentscheidungen. Solche Rationalitätsdefizite zu kennen ist zweifellos wichtig, aber noch nicht ausreichend. Die sorgfältige Analyse von Pathologien muss durch praktische Präventions- und Interventionsmaßnahmen ergänzt werden.

2. Entscheidungsunterstützung


Es wäre eine naive und geradezu gefährliche Illusion, anzunehmen, Entscheidungspathologien und daraus folgende Fehlentscheidungen wären durch einen einfachen Präventionskatalog von Maßnahmen prinzipiell vermeidbar. Eine solche Sichtweise wird hier nicht vertreten, sie soll auch durch die nachfolgenden Vorschläge nicht entstehen.
Neben der Begrenzung von Ermessensspielräumen, etwa im Sinne zustimmungsbedürftiger Geschäfte, sowie einer gezielten personellen Besetzung von Entscheidungseinheiten, also Instanzen, Gruppen und Gremien, nach kognitiven Gesichtspunkten bieten sich v.a. zwei Vorsorgeinstrumente an: systematischer Methodeneinsatz sowie Schaffung einer Verantwortungskultur.

a) Methodenunterstützung


Menschliches Problemlöseverhalten ist wesentlich bestimmt durch die jeweilige Wahrnehmung der Komplexität einer Situation. Die Wahrnehmung ist daher abhängig v.a. von kognitiven Eigenschaften der Entscheidungsperson(en). In multipersonalen Entscheidungen kommt hinzu, dass unterschiedliche Personen ein objektiv gleiches Problem erfahrungs- und eigenschaftsbedingt unterschiedlich wahrnehmen. Aus dieser Subjektivität können sich erhebliche Einschätzungs- und Verhaltensdivergenzen ergeben, die den Prozess und sein Resultat maßgeblich beeinflussen. Methodenunterstützung bedeutet eine Objektivierung der Problemsituation. Methoden dienen der Struktur- und Kausalanalyse sowie als Bewertungs-, Koordinations- und Präsentationshilfen. Sie bewirken damit eine Versachlichung unterschiedlicher Sichtweisen und bieten eine gemeinsame Argumentations- und Arbeitsgrundlage.

b) Verantwortungskultur


In jüngerer Zeit ist die Übernahme persönlicher Verantwortung durch exponierte Führungskräfte bei strategischen und materiell umfangreichen Fehlentscheidungen öffentlich bekannt (gemacht) worden. Bis dahin war oder schien persönliche Verantwortung eher die Ausnahme und Regelungen wie Trennung im wechselseitigen Einvernehmen standen im Vordergrund. Es liegt in der Natur der Sache, dass hochrangige Entscheider insb. bei langfristigen Grundsatzbeschlüssen vor Fehleinschätzungen nicht geschützt sind. Daher soll hier auch keineswegs ein Plädoyer für eine Art „ law and order “ erfolgen. Aber die Lässigkeit, mit der Großverluste als unabsehbar oder unabwendbar und Fehlentscheidungen vehement gerechtfertigt werden, sollte nicht der allgemein übliche und kritiklos gebilligte Verhaltensstandard sein.
Stattdessen sollte ein Entscheidungs- Krisenmanagement konzipiert werden, das in einer ausgewogenen Kombination von Ethik, Spielregeln und Sanktionen eine Atmosphäre von Selbstkritik, Behutsamkeit, Informationsabsicherung und Risikobewusstsein schafft. Die wichtigsten Bestandteile eines solchen Kriseninstrumentariums müssten die explizite Definition erfolgskritischer Schwellen in materieller und zeitlicher Hinsicht, also ein verstärktes Arbeiten mit Fehlerszenarien sein. Hinzutreten müsste ein Denken in Krisenkategorien wie Prozessabbruch, Reversibilität und Notmaßnahmen. Unerlässlich wäre außerdem eine spezifische Irrtumsmentalität, die darauf ausgerichtet ist, Fehleinschätzungen als künftig zu vermeidende Sachprobleme und nicht als personelle Schuldfragen zu betrachten. Schließlich müsste ein Exkulpationsverfahren darüber befinden, ob alles zur Vermeidung von Fehleinschätzungen getan wurde. Im positiven Fall sollte dies ausdrücklich und mit befreiender Wirkung formuliert werden. Für den negativen Fall müsste ein graduell gestuftes Sanktionskonzept bestehen mit personellen und materiellen Konsequenzen, je nach Ausmaß des Verstoßes gegen das skizzierte Modell der Verantwortungskultur. In diesem Zusammenhang dürfte auch die Ausgestaltung einer wirksamen Corporate Governance (Unternehmensverfassung) einen hohen Stellenwert erlangen.
Literatur:
Auer-Rizzi, Werner : Entscheidungsprozesse in Gruppen. Kognitive und soziale Verzerrungstendenzen, Wiesbaden 1998
Bronner, Rolf : Planung und Entscheidung. Grundlagen – Methoden – Fallstudien, 3. A., München et al. 1999
Bronner, Rolf : Entscheidung unter Zeitdruck. Eine Experimentaluntersuchung zur empirischen Theorie der Unternehmung, Tübingen 1973
Hauschildt, Jürgen : Entscheidungen der Geschäftsführung. Typologie, Informationsverhalten, Effizienz, Tübingen 1983
Janis, Irving : Victims of groupthink, 2. A., Boston 1982
Kahneman, Daniel/Slovic, Paul/Tversky, Amos : Judgement under uncertainty. Heuristics and biases, Cambridge et al. 1982
Scholl, Wolfgang : Informationspathologien, in: HWO, hrsg. v. Frese, Erich, 3. A., Stuttgart 1992, Sp. 900 – 912
Schwaab, Carsten : Effektive Urteilsprozesse. Eine empirische Untersuchung von Personalentscheidungen, Frankfurt am Main et al. 2003
Staw, Barry M. : The escalation of commitment: An update and appraisal, in: Organizational decision making, hrsg. v. Shapira, Zur, Cambridge 1997, S. 191 – 215
Thomae, Hans : Der Mensch in der Entscheidung, München 1960
Wiemann, Volker : Verlust-Eskalation in Management-Entscheidungen, Frankfurt am Main et al. 1998
Witte, Eberhard : Das Informationsverhalten in Entscheidungsprozessen, Tübingen 1972
Witte, Eberhard : Phasen-Theorem und Organisation komplexer Entscheidungsverläufe, in: ZfbF, Jg. 20, 1968, S. 625 – 647

 

 


 

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