Überschuldung
Inhaltsübersicht
I. Begriff und Zweck des Insolvenztatbestands der Überschuldung
II. Feststellung einer Überschuldung
III. Schlussbemerkungen
I. Begriff und Zweck des Insolvenztatbestands der Überschuldung
Im Kreditvertrag verpflichtet sich der Schuldner, unabhängig vom wirtschaftlichen Erfolg seines Unternehmens feste Zins- und Tilgungszahlungen auf das bereitgestellte Kapital zu leisten. Die Entscheidungsbefugnisse verbleiben in aller Regel beim Kreditnehmer. Dadurch ist die Position der Gläubiger potenziell gefährdet. Um sich zu schützen, könnte ein Kreditgeber den Handlungsspielraum des Schuldners vertraglich einschränken oder Sicherheiten durchsetzen, die ihm das Recht geben, seine Ansprüche ersatzweise aus der Verwertung von Vermögensgegenständen des Schuldners zu befriedigen. Darüber hinaus werden die Gläubiger durch das Insolvenzrecht geschützt. Nach den Bestimmungen der am 01.01.1999 in Kraft getretenen InsO geht die Verfügungsgewalt über das Vermögen des Schuldners auf die Gläubiger über, sobald ein Insolvenztatbestand eintritt. Das Insolvenzverfahren dient dazu, in einer existenzbedrohenden Unternehmenskrise die Ansprüche der Gläubiger eines Schuldners gemeinschaftlich bestmöglich zu erfüllen (§ 1 InsO). Dies kann durch Verwertung des vorhandenen Vermögens und anschließende Liquidation des Unternehmens oder durch eine Reorganisation nach einem Insolvenzplan geschehen. Als Gründe für die Eröffnung eines Insolvenzverfahrens benennt das Gesetz die Zahlungsunfähigkeit (§ 17 InsO), die drohende Zahlungsunfähigkeit (§ 18 InsO) und die Überschuldung (§ 19 InsO). Der Insolvenzauslöser Überschuldung gilt für juristische Personen und für Gesellschaften ohne Rechtspersönlichkeit, bei denen keine natürliche Person als Gesellschafter persönlich haftet (z.B. GmbH & Co. KG). Dadurch wird im Vergleich zu Personengesellschaften ein Ausgleich für den fehlenden Haftungsrückhalt geschaffen. Die Überschuldung ist außerdem Insolvenzgrund für ein Verfahren über den Nachlass gem. § 320 InsO und über das Gesamtgut einer fortgesetzten Gütergemeinschaft nach § 332 InsO.
Überschuldung liegt nach der gesetzlichen Definition vor, „ wenn das Vermögen des Schuldners die bestehenden Verbindlichkeiten nicht mehr deckt “ (§ 19 II InsO). Die geschäftsführenden Organe einer überschuldeten Gesellschaft sind verpflichtet, ohne schuldhaftes Zögern, spätestens aber drei Wochen nach Eintritt der Überschuldung einen Antrag auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens zu stellen (§§ 130a, 177a HGB, §§ 64, 71 GmbHG, §§ 92, 268 AktG, § 99 GenG). Wer diese Pflicht vorsätzlich oder fahrlässig verletzt, macht sich strafbar (Haarmeyer, /Wutzke, /Förster, 1998). Antragsberechtigt sind außerdem die Gläubiger (Außenlösung; § 14 I InsO). Allerdings ist die Überschuldung für Außenstehende wegen der erforderlichen Bewertung des schuldnerischen Vermögens nur schwer zu erkennen und glaubhaft zu machen.
Mit dem Überschuldungstatbestand soll ein Unternehmenszustand definiert werden, der eine so erhebliche Gefährdung der Gläubigerpositionen beinhaltet, dass ein Eingriff in die Verfügungsrechte des Schuldners geboten erscheint. Die Regelung dient dazu, die Insolvenz einer nicht überlebensfähigen Gesellschaft vor den Eintritt der Zahlungsunfähigkeit zu verlagern, um eine möglichst vollständige Befriedigung der Gläubiger zu erreichen. Die Unternehmensleitung ist verpflichtet, die Schuldendeckungsfähigkeit in einer Krise laufend zu prüfen. Außerdem muss sie die Gesellschafter über die wirtschaftliche Lage informieren, damit diese sich selbst ein Urteil über die Schieflage und ihre Konsequenzen bilden können (Lutter, 2000). Erhöhte Aufmerksamkeit ist spätestens geboten, wenn der reguläre JA einer AG oder GmbH den Verlust der Hälfte des Grund- bzw. Stammkapitals anzeigt. Nach § 92 I AktG und § 49 III GmbHG muss in diesem Fall die Unternehmensleitung die Haupt- bzw. Gesellschafterversammlung einberufen und über den Verlust berichten.
Die Messung der Überschuldung wird in der Literatur kontrovers diskutiert. Unstreitig ist, dass Überschuldung aufgrund eines Vermögensstatus festzustellen ist. Probleme bereitet jedoch die Bewertung des Vermögens. Hier ist vor allem zu klären, inwieweit Prognosen, die nur in begrenztem Maße objektivierbar sind, in die Bewertung einfließen dürfen. Subjektive Prognosen verbessern unter Umständen die Aussagekraft der Wertansätze, beeinträchtigen aber andererseits die Justitiabilität und Rechtssicherheit des Überschuldungstatbestands (Steiner, M. 1986).
II. Feststellung einer Überschuldung
1. Prüfungsreihenfolge
Zur Bewertungsfrage bestimmt das Gesetz in § 19 II Satz 2 InsO: „ Bei der Bewertung des Vermögens des Schuldners ist jedoch die Fortführung des Unternehmens zugrunde zu legen, wenn diese nach den Umständen überwiegend wahrscheinlich ist. “ Demnach hängt die Prämisse, unter der die Bewertung des Vermögens zu erfolgen hat, von einer Prognose über das Fortbestehen des Unternehmens ab. Fällt sie positiv aus, sind Fortführungswerte anzusetzen, anderenfalls die in der Regel niedrigeren Liquidationswerte. Die Anforderung der überwiegenden Wahrscheinlichkeit ist erfüllt, wenn die Fortführung wahrscheinlicher ist als die Stillegung des Unternehmens.
Die Fallunterscheidung in § 19 II InsO legt einen zweistufigen Prüfprozess nahe, bestehend aus einer vorgelagerten Fortbestehensprognose und einer anschließenden, vom Ergebnis der Prognose abhängigen Bewertung (IDW, 1997; Drukarczyk, /Schüler, 2000). Daneben wird eine alternative, dreistufige Prüfungsreihenfolge befürwortet (z.B. Uhlenbruck, 1994; Lutter, 1999; Goetsch, 2000; Pape, 2000). Danach soll bei einer sich abzeichnenden Unternehmenskrise zunächst ein Überschuldungsstatus nach Liquidationswerten aufgestellt werden. Weist dieser eine Deckung der Verbindlichkeiten aus, ist das Unternehmen nicht überschuldet. Im Falle einer Unterdeckung hingegen ist die Überschuldung nur dann zu verneinen, wenn eine Fortbestehensprognose zu einem günstigen Ergebnis gelangt und der Überschuldungsstatus nach Going Concern eine Deckung der Schulden durch die Aktiva anzeigt. An die Fortführungsprognose sollen um so höhere Anforderungen gestellt werden, je höher die Unterdeckung auf der Grundlage der Liquidationswerte ausfällt (Goetsch, 2000). Die dreistufige Prüfungsreihenfolge wird durch den Gesetzestext insofern gestützt, als das Wort „ jedoch “ verdeutlicht, dass der Ansatz von Fortführungswerten als Ausnahme vom Grundsatz der Liquidationsprämisse zu verstehen ist.
Günstigenfalls kann eine Überschuldung mit dem dreistufigen Schema schon nach dem ersten Schritt – also ohne Prognose – ausgeschlossen werden. Im Vergleich zur zweistufigen Pr kann sich aber auch ein Mehraufwand ergeben, weil die Bewertung unter der Annahme der Liquidation letztlich irrelevant ist, wenn die Fortführung als überwiegend wahrscheinlich einzustufen ist. Da das Gesetz die Prüfungsreihenfolge nicht explizit festlegt und sich aus dem Zweck der Vorschrift keine eindeutige Entscheidung ableiten lässt, sind beide Schemata als zulässig zu betrachten (auch Kirchhof, H.-P. 1999; Smid, 1999; ablehnend zum zweistufigen Prozess Schmerbach, 1999).
Vor der Insolvenzrechtsreform wurde in der überwiegenden Literatur und der höchstrichterlichen Rechtsprechung der von Schmidt formulierte „ modifizierte zweistufige Überschuldungsbegriff “ vertreten (Schmidt, K. 1978; Schmidt, K. 1982; ablehnend Drukarczyk, 1986; Drukarczyk, 1994). Danach liegt Überschuldung im Rechtssinn nur vor, „ wenn das Vermögen der Gesellschaft bei Ansatz von Liquidationswerten die bestehenden Verbindlichkeiten nicht decken würde (rechnerische Überschuldung) und die Finanzkraft der Gesellschaft mittelfristig nicht zur Fortführung des Unternehmens ausreicht (Überlebens- und Fortbestehensprognose) “ (BGH, 1992, S. 1898). Die Prognose wird in dieser Definition zu einem Prüfungsmerkmal mit direkter Wirkung auf die Feststellung der Überschuldung erhoben und nicht als bloße Bewertungsprämisse eingestuft. Der Gesetzgeber hat diese Sichtweise in § 19 II Satz 2 InsO ausdrücklich abgelehnt und klargestellt, dass eine günstige Fortbestehensprognose keine Vorentscheidung über das Vorliegen einer Überschuldung bedeutet (s.a. Begr. zu § 23 RegE). Sie rechtfertigt nur eine andere Art der Vermögensbewertung. Nach der Intention des Gesetzgebers ist folglich trotz überwiegender Wahrscheinlichkeit für das Fortbestehen des Unternehmens ein Insolvenzverfahren anzustrengen, wenn aktuell das Vermögen die Schulden nicht mehr deckt. Etwaige Sanierungsmaßnahmen sollen dann in einem geordneten gerichtlichen Verfahren unter Gläubigerhoheit beraten werden, da selbst bei positiver Fortbestehensprognose die Wahrscheinlichkeit für das Scheitern der Gesellschaft bis nahe 50% betragen kann (Müller, H.-P./Haas, 2000). Der modifizierte zweistufige Überschuldungsbegriff ist daher mit dem geltenden Insolvenzrecht nicht mehr vereinbar (z.B. Früh, /Wagner, W. 1998; Höffner, 1999). Am Ergebnis ändert die neue Rechtslage in all jenen Fällen nichts, in denen eine positive Fortbestehensprognose mit einer Schuldendeckung im Überschuldungsstatus einhergeht (Früh, /Wagner, W. 1998).
2. Fortbestehensprognose
Eine positive Fortbestehensprognose setzt voraus, dass nach einer sorgfältigen betriebswirtschaftlichen Analyse objektiv günstige Aussichten für das Überleben der Gesellschaft bestehen und der Schuldner die Absicht hat, das Unternehmen weiter zu führen. Sollen nur Teile des Unternehmens erhalten bleiben, sind für die anderen Bereiche Auflösungswerte anzusetzen. Wenngleich klar ist, dass das Gesamturteil auf einem sachgerechten, systematischen Vorgehen beruhen muss, herrscht mangels gesetzlicher Regelungen Uneinigkeit über die konkrete Ausgestaltung der Prognose. Eine Mindermeinung geht davon aus, dass es sich um eine rein qualitative Analyse der Zukunftsperspektiven der Gesellschaft handelt (Burger, /Schellberg, 1995b). Die überwiegende Literatur orientiert sich hingegen an der Rechtsprechung des BGH vor der Insolvenzrechtsreform. Darin stellt der BGH darauf ab, ob die Finanzkraft mittelfristig zur Fortführung der Gesellschaft ausreicht. Als Grundlage für den zu erstellenden Finanzplan ist zunächst ein Unternehmenskonzept zur entwerfen, das die Strategie und die Planungen für die operative Geschäftstätigkeit darlegt (IDW, 1997). Ausgehend von einer Analyse des Wettbewerbsumfelds und der personellen, fachlichen und finanziellen Ressourcen des Unternehmens ist schlüssig aufzuzeigen, wie eine erfolgversprechende Marktstellung erreicht werden soll.
Anhand des Finanzplans ist zu prüfen, ob in einem überschaubaren Zeitraum das finanzielle Gleichgewicht voraussichtlich gewahrt bleibt (ausführlich Steiner, M. 1986). Es sind Sensitivitätsanalysen oder Szenariobetrachtungen anzustellen, um die Wahrscheinlichkeit einzuschätzen, mit der die Einzahlungen die Zahlungsverpflichtungen übertreffen. Der Finanzplan erstreckt sich mindestens auf das laufende und das folgende Geschäftsjahr. Der genaue Zeitrahmen hängt davon ab, mit welcher Unsicherheit weiter reichende Prognosen im konkreten Einzelfall behaftet sind. Erkennbare zukünftige Finanzierungsdefizite, die wahrscheinlich nicht bereinigt werden können, ziehen stets eine negative Prognose nach sich. Selbst bei ausgeglichener Finanzplanung fällt die Prognose negativ aus, wenn die Anteilseigner nicht gewillt sind, das Unternehmen weiter zu führen.
Unternehmen in der Krise sind häufig auf Außenfinanzierung angewiesen, um eine Finanzierungslücke zu schließen. Dies steht einer Fortführung nicht entgegen, wenn es für potenzielle Kapitalgeber vorteilhaft ist, die benötigten Mittel bereitzustellen (Hax, 1989; Nonnenmacher, 1994). Demnach ist die „ Fortführbarkeit eines Unternehmens anzunehmen, wenn der Barwert der finanziellen Überschüsse nicht kleiner ist als der im Wege der Außenfinanzierung heute zu deckende Kapitalbedarf “ (Nonnenmacher, 1994). Der Nachteil dieses Konzepts liegt in seiner Unbestimmtheit und der dadurch bedingten Manipulationsgefahr. Nach verbreiteter Auffassung dürfen Kapitalzuführungen in der Finanzplanung daher nur berücksichtigt werden, wenn sie aufgrund konkreter Anhaltspunkte als realistisch anzusehen sind (IDW, 1997).
Eine Fortbestehensprognose auf der Basis eines Finanzplans wird teilweise abgelehnt, weil sie sich mit dem neu eingeführten Insolvenztatbestand der drohenden Zahlungsunfähigkeit nach § 18 InsO überschneidet (Höffner, 1999). Unterschiede bestehen in der Länge des Prognosezeitraums, v.a. aber in den Rechtsfolgen einer prognostizierten Finanzierungslücke: Bei drohender Zahlungsunfähigkeit ist der Schuldner berechtigt, aber nicht verpflichtet, einen Insolvenzantrag zu stellen. Bedeutet die drohende Zahlungsunfähigkeit zugleich eine ungünstige Fortführungsprognose, kommt es in der Überschuldungsprüfung auf den Status zu Liquidationswerten an. Liegt eine Überschuldung vor, muss das Leitungsgremium die Eröffnung des Insolvenzverfahrens beantragen. Die Insolvenz kann hier im Gegensatz zur drohenden Zahlungsunfähigkeit auch von Gläubigerseite ausgelöst werden.
Die vorherrschende Interpretation der Fortführungsprognose lässt außer Acht, dass es ökonomisch sinnvoll sein kann, ein Unternehmen aufzulösen, obwohl es mit großer Wahrscheinlichkeit die nahe Zukunft finanziell überstehen würde. In einer idealisierten Modellwelt mit reibungslos funktionierenden Kapitalmärkten und homogen verteilten Informationen läuft die Fortführungsentscheidung auf einen Marktwertvergleich hinaus: Das Unternehmen wird fortgeführt, wenn sein diesbezüglicher Marktwert den Wert unter der besten realisierbaren Liquidationsstrategie übersteigt (Drukarczyk, 1986). Dabei ist jeweils von einer vertragskonformen Bedienung des Fremdkapitals auszugehen.
Eine solche auf Unternehmensgesamtwerten basierende Prognose räumt dem Bewertenden einen sehr weiten Ermessungsspielraum ein, der die Gefahr von Manipulationen birgt. Darunter leidet die Objektivierbarkeit und Rechtssicherheit der Überschuldungsprüfung. Daher kann dieser Auslegung der Fortführungsprognose trotz ihrer theoretischen Stringenz nicht zugestimmt werden. Sie entspricht auch nicht dem Willen des Gesetzgebers, wonach die Prognose ausdrücklich nicht als Substitut für einen Überschuldungsstatus angesehen werden darf. Im Widerspruch dazu ließe sich aus einem Gesamtbewertungskalkül sofort ablesen, ob der Wert des Vermögens den Barwert der Schulden übersteigt. Eine weitere Stufe der Pr wäre überflüssig.
Die Gegenüberstellung des Vermögens und der Verbindlichkeiten zum Zwecke der Überschuldungsprüfung erfolgt in einem stichtagsbezogenen Überschuldungsstatus. Für ihn sind die handelsrechtlichen Ansatz- und Bewertungsvorschriften (§ 246 ff. HGB) wegen anderer Zielsetzungen nicht maßgeblich (stellvertretend für viele Müller, H.-P./Haas, 2000). Dies schließt nicht aus, dass die letzte Handelsbilanz den Ausgangspunkt der Bewertung bildet.
3. Ansatz und Bewertung unter der Liquidationsprämisse
Im Überschuldungsstatus sind sämtliche Vermögensgegenstände zu berücksichtigen, die im Falle einer Insolvenzeröffnung zur Insolvenzmasse gem. § 35 InsO gehören (Kirchhof, H.-P. 1999). Entscheidend ist die Fähigkeit, durch Verwertung des Gegenstands einen Beitrag zur Schuldendeckung zu erzielen. Auch immaterielles Vermögen ist daher anzusetzen, wenn es einzeln veräußert werden kann. Aktive RAP sind aufzunehmen, sofern sie Vorauszahlungen darstellen, die im Falle der Insolvenz einen rechtlich durchsetzbaren Erstattungsanspruch begründen (Kupsch, 1984). Vermögensgegenstände, an denen Aus- oder Absonderungsrechte bestehen, gehen ebenso in den Überschuldungsstatus ein wie die zugehörigen Verbindlichkeiten (Kirchhof, H.-P. 1999 m.w.N.; a.A. bzgl. auszusondernder Vermögensgegenstände Pape, 2000). Die Wertansätze richten sich nach den Preisen, die bei einer Liquidation des Unternehmens für die Vermögensgegenstände zu erzielen wären. Dabei sind die mit dem Verkauf unmittelbar zusammenhängenden Kosten abzuziehen.
Welche Verkaufserlöse realistisch sind, hängt von der Liquidationsintensität, also dem Grad der Aufspaltung in Einzelteile, und der Liquidationsgeschwindigkeit, d.h. der Veräußerungsfrist, ab. Grundsätzlich ist eine Einzelveräußerung der Vermögensgegenstände anzunehmen. Ausnahmsweise kann ein Teilbereich oder das ganze Unternehmen als Verbund bewertet werden, wenn dafür ein konkretes Kaufangebot vorliegt (Goetsch, 2000). Hinsichtlich der Liquidationsgeschwindigkeit ist grundsätzlich eine geordnete Auflösung ohne besonderen Zeitdruck zu unterstellen, sodass für die einzelnen Vermögensgegenstände ähnlich hohe Preise wie bei einer freiwilligen Geschäftsaufgabe erzielt werden können.
Auf der Passivseite sind alle Verbindlichkeiten zu berücksichtigen, die im Insolvenzfall aus der Insolvenzmasse bedient werden müssten. Der ihnen beizumessende Wert entspricht dem Betrag, den die Gläubiger bei Liquidation geltend machen können. Aufwandsrückstellungen, die keine rechtlich bindenden Verpflichtungen beinhalten, dürfen nicht angesetzt werden. Die Behandlung eigenkapitalersetzender Darlehen ist in der Literatur „ heillos umstritten “ (Lutter, 1999, S. 645). Nach der Auffassung von Lutter gehören sie nicht in den Überschuldungsstatus; ihr Charakter als Eigenkapitalsubstitut verbiete es, eine Gesellschaft um dieser nachrangigen Gläubiger willen einem Insolvenzverfahren zu unterwerfen (Lutter, 1999). Mehrheitlich geht die Literatur jedoch davon aus, dass diese Darlehen zu passivieren sind (Begr. zu § 23 RegE; Goetsch, 2000; Möhlmann, 1998). Ob eine qualifizierte Rangrücktrittserklärung die Passivierungpflicht aufhebt, ist unklar (zustimmend Goetsch, 2000; Müller, H.-P./Haas, 2000; Pape, 2000; verneinend Hess, 1999). Verbindlichkeiten, die erst nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens entstehen – wozu auch die Kosten des Verfahrens selbst gehören – sind im Überschuldungsstatus nicht zu berücksichtigen (Goetsch, 2000).
4. Ansatz und Bewertung unter der Fortführungsprämisse
Die Bewertung des Vermögens unter der Fortführungsprämisse erfordert aus ökonomischer Sicht die Anwendung der Grundsätze der Unternehmensbewertung. Danach entspricht der Unternehmensgesamtwert dem Barwert aller erwarteten Einzahlungsüberschüsse, die zur Verteilung an die Kapitalgeber zur Verfügung stehen. Dieses Bewertungskonzept wird aber in Bezug auf die Überschuldungsmessung überwiegend abgelehnt, weil der Ertragswert nicht hinreichend objektivierbar sei (a.A. Burger, /Schellberg, 1995a). Die Vertretungsorgane von Kapitalgesellschaften könnten den Insolvenzantrag fast beliebig hinauszögern, indem sie der Bewertung optimistische Annahmen zugrunde legen. Andererseits müssten sie wegen der Unbestimmtheit des Überschuldungstatbestands selbst dann Haftungsansprüche befürchten, wenn sie die Bewertung sachgerecht durchgeführt haben. Bezweifelt werden muss auch, dass die gesamtwertorientierte Konzeption mit dem Willen des Gesetzgebers vereinbar ist (so auch Müller, H.-P./Haas, 2000).
Der Fachausschuss Recht des IDW hat in seinen Empfehlungen zur Überschuldungsprüfung bei Unternehmen die Leitlinie formuliert, „ Vermögenswerte und Schulden [seien] grundsätzlich mit dem Betrag anzusetzen, der ihnen als Bestandteil des Gesamtkaufpreises des Unternehmens bei konzeptgemäßer Fortführung beizulegen wäre “ (IDW, 1997). Die Untergrenze für diesen beizulegenden Wert wird durch den erzielbaren Nettoverkauferlös bestimmt. Die Preisobergrenze entspricht dem Minimum aus Wiederbeschaffungs- und Reproduktionswert. Im idealtypischen Fall eines vollkommenen Marktes für den betrachteten Gegenstand fallen die Preisober- und -untergrenze zusammen. Während dieses Modell bei gängigen, börsengehandelten Wertpapieren annähernd zutrifft, sind die Märkte vieler anderer Vermögensgegenstände durch einen hohen Grad an Unvollkommenheit gekennzeichnet. Für den beizulegenden Wert kommen hier sämtliche Beträge zwischen der Preisober- und der Preisuntergrenze in Betracht. Alle Versuche, aus dieser Bandbreite einen objektiv „ richtigen “ Wert auszuwählen, sind letztlich zum Scheitern verurteilt.
Einige Autoren sprechen sich generell für Wiederbeschaffungswerte als akzeptablen Kompromiss zwischen der notwendigen Objektivierung und der Aussagekraft der Bewertung aus. Wiederbeschaffungswerte sind aber unter Umständen kein guter Indikator für den zukünftigen Erfolgsbeitrag eines Vermögensbestandteils, wie das Beispiel einer Fehlinvestition zeigt (Burger, /Schellberg, 1995b). Daher ist dem differenzierteren Vorschlag des IDW trotz des größeren subjektiven Ermessens der Vorzug zu geben. Auf jeden Fall sind stille Reserven der handelsrechtlichen Bilanz im Überschuldungsstatus aufzulösen.
Nicht eindeutig geregelt ist die Frage, wie der Kreis der zu berücksichtigenden Vermögensteile abzugrenzen ist. Die Einbeziehung immateriellen Vermögens, das selbständig verwertbar ist, wird regelmäßig befürwortet. Der Ansatz eines Firmenwertes wird teilweise ohne besondere Einschränkungen als zulässig erachtet (Mönning, 1999), meist aber an die Voraussetzung geknüpft, dass eine konkrete Realisierbarkeit nachgewiesen wird (IDW, 1997; Früh, /Wagner, W. 1998; Müller, H.-P./Haas, 2000; Goetsch, 2000). Einerseits bewirkt eine sehr restriktive Handhabung unter Umständen wirtschaftlich unsinnige Ergebnisse, indem sie Unternehmen mit einem hohen Firmenwert in die Insolvenz treibt (Schmidt, K. 2000). Je vollständiger andererseits das immaterielle Vermögen einschließlich des originären Firmenwerts erfasst wird, um so stärker nähert sich theoretisch die Summe der einzelnen Vermögenswerte dem Ertragswert nach der Gesamtbewertungskonzeption an. Gleichzeitig treten dann aber auch die dort konstatierten Probleme auf (auch Schmidt, K. 2000).
5. Dokumentation
Die wesentlichen Schritte der Überschuldungsprüfung, also die Fortbestehensprognose und die Bewertung, sind für sachverständige Dritte nachvollziehbar zu dokumentieren. Die Schlussfolgerungen müssen verständlich begründet werden (IDW, 1997). Gerade wegen der Unbestimmtheit des Überschuldungstatbestands empfiehlt es sich, unabhängige, außenstehende Sachverständige zu konsultieren, um Haftungsansprüche aufgrund eines verspäteten Insolvenzantrags abwehren zu können, wenn sich eine positive Fortbestehensprognose als falsch erweisen sollte (Lutter, 1999).
III. Schlussbemerkungen
Der Zeitpunkt der Insolvenzauslösung muss das berechtigte Interesse der Gläubiger an einer rechtzeitigen Insolvenzeröffnung abwägen gegen die Gefahr, durch eine unnötige Insolvenz Werte – im Zweifel auch zu Lasten der Gläubiger – zu vernichten. Vor der Insolvenzrechtsreform 1999 konnte in über 80% aller Fälle mangels Masse kein Insolvenzverfahren eröffnet werden. Der Insolvenzgrund der Überschuldung hatte seine gläubigerschützende Wirkung weitgehend eingebüßt (Burger, /Schellberg, 1995a). Die Erfahrungen mit zu optimistischen Fortbestehensprognosen haben den Gesetzgeber veranlasst, den zweistufigen Überschuldungsbegriff festzuschreiben, wonach ein Unternehmen trotz günstiger Aussichten für das Überleben überschuldet ist, wenn unter der Going Concern-Annahme das Vermögen die Schulden nicht mehr deckt.
Nach wie vor besteht aber Unsicherheit über den Charakter der Fortbestehensprognose und die anzuwendenden Ansatz- und Bewertungsregeln insbes. bei positiver Prognose. Die Bedenken gegen einen zu weiten Ermessensspielraum bei der Pr des Tatbestands der Überschuldung (Steiner, M. 1980; Steiner, M. 1986; Drukarczyk, 1986) wurden mit der Insolvenzrechtsreform im Kern nicht ausgeräumt (auch Schmerbach, 1999).
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