Einkommenspolitik
1. Abgrenzungen. In den westlichen Industrieländern verstärkte sich die "Stagflation" seit Beginn der sechziger Jahre, so daß neue Instrumente zur Bekämpfung von Inflation (Inflationstheorie) und Arbeitslosigkeit gesucht wurden. Dabei standen drei Aspekte der Inflation im Vordergrund:
(1) sie wurde als Folge des Verteilungskampfes interpretiert;
(2) die Verbände wurden an der Verantwortung und Durchführung der Antiinflationspolitik beteiligt;
(3) die Instrumente sollten die Globalsteuerung ergänzen und so auf Entstehung, Verwendung und Verteilung des Sozialprodukts einwirken, daß die volkswirtschaftlichen Ressourcen bei stabilem Geldwert voll ausgelastet werden (Cassel/Thieme, 1977; Frey, 1981). Demzufolge schließt E. die bewußte Beeinflussung unterschiedlicher Einkommensarten bei ihrer Entstehung (Einkommensentstehung) unter stabilitätspolitischer Zielsetzung ein (Esdar, 1980). Zunächst sollten ausschließlich die Lohneinkommen (Einkommen) beeinflußt werden (OECD, 1962), doch bald wurde die Einwirkung auf alle Einkommen gefordert (Rothschild, 1965). Dabei wurde zwischen direkter Beeinflussung von Löhnen und Preisen und indirekter, den Marktprozeß verbessernder Gestaltung der Einkommensentstehung unterschieden (Haberler, 1971). Schließlich sollten alle Instrumente berücksichtigt werden, die von einer bestimmten Richtgröße abweichende Faktor- und Güterpreise unmittelbar sanktionieren (Rall, 1975). Dagegen blieb die Gewichtung des Verteilungsziels umstritten (Esdar, 1980). Auch über die Bedingungen und Wirkungen einer Beteiligung der sozialen Gruppen bzw. ihrer Verbände entstand keine einheitliche Auffassung (Armingeon, 1983). Somit kann der Begriff E. i.w.S. auf die stabilitäts-, allokations- und verteilungsorientierte Beeinflussung der Entstehung und Verteilung unterschiedlicher Einkommenskomponenten ausgedehnt werden. Dabei bestehen die Ansatzpunkte in der Entstehung der funktionalen Einkommen, der Verteilung und Umverteilung der personellen Einkommen oder der Veränderungen der Einkommensstruktur bzw. der Nutzenströme in der Gesellschaft. Dagegen beschränkt sich die E. i.e.S. auf die stabilitätsorientierten und allokationsorientierten Aufgaben.
2. Konzepte. Nach Maßgabe der angewendeten Koordinationsmechanismen zeichnen sich drei Varianten der E. ab (Rall, 1975; Esdar, 1980; Frey, 1981): imperative, indikative und kooperative E. Dabei überwiegt einerseits die ex-ante-Koordination (imperative E.), andererseits die ex-post-Koordination (indikative und kooperative E.). Die Entwicklung der Konzepte wurde unterschiedlich begründet. Zunächst wurden die Nachfragesog- und Lohnkostendrucktheorie herangezogen. Die wirtschaftliche Instabilität der siebziger Jahre führte jedoch zu der Forderung, auch Gewinndruck- und Verteilungskampftheorien zu berücksichtigen. Dagegen wurde die E. aus monetaristischer Sicht (Monetarismus) als erfolglos angesehen und abgelehnt. Die Neue Politische Ökonomie führte zu der Forderung, die politische Dimension des Inflationsprozesses zu berücksichtigen (Woll, 1971; Frey, 1981). Die politischen und institutionellen Voraussetzungen der E. sind seit Beginn der achtziger Jahre in den Vordergrund gerückt. Neue empirische Untersuchungen sprechen dafür, daß konfliktabsorbierende Mechanismen (Lohndrift, Dezentralisierung der Tarifverhandlungen, Austrittsoption) eine wesentliche Voraussetzung für eine von den Verbänden mitgetragene Einkommenspolitik sind (Armingeon, 1983). Jedoch wird gegen freiwillige Übereinkünfte zwischen den Verbänden und staatlichen Instanzen eingewendet, daß die Verbände nicht legitimiert seien, an den wirtschaftspolitischen Entscheidungen mitzuwirken, da ihnen das politische Mandat hierfür fehle (Streit, 1979). Andererseits wird vorgeschlagen, die Gewerkschaften z.B. an der finanziellen Verantwortung für die Arbeitslosenversicherung zu beteiligen und auf diesem Wege eine direkte Rückkopplung von der Arbeitsmarktlage auf die Lohnabschlüsse institutionell zu verankern, ohne die Tarifautonomie zu beeinträchtigen (Risch, 1983).
3. Instrumente und Anwendungsprobleme. Die E. wurde bisher - überwiegend fallweise, besonders zur Inflationsbekämpfung, - ohne geschlossene Ziel-Mittel-Konzeption und - in unterschiedlichen Formen, Zeitpunkten und Intensitäten angewendet. Soweit die E. jedoch als Teil der Stabilitätspolitik (Stabilisierungspolitik) gestaltet wird, strebt sie im besonderen die Stabilität der Einkommensentwicklung und die Erhaltung des Geldwertes an. Daher kommt den Methoden der Konfliktregelung zwischen den Organisationen der Arbeitgeber und Arbeitnehmer sowie den staatlichen Institutionen, Sparer- und Verbraucherverbänden eine zunehmende Bedeutung zu. Darüber hinaus erhält die Koordination der E. mit anderen Sachbereichen der Wirtschafts-(Theorie der Wirtschaftspolitik) und Sozialpolitik auf der nationalen, supra- und internationalen Ebene steigendes Gewicht. Dabei umfaßt die E. i.w.S. alle Maßnahmen zur Beeinflussung der Einkommensentwicklung. Dagegen strebt die E. i.e.S. vor allem die Stabilisierung der funktionellen Einkommen an. Dabei steht die Lohn-, Sozial- und Arbeitsmarktpolitik im Vordergrund, jedoch kommt der Beeinflussung der Nicht-Lohneinkommen gleichfalls hohe Bedeutung zu.
3. 1. Imperative E. liegt vor, wenn die einzelwirtschaftlichen Handlungsspielräume durch verbindliche staatliche Anweisungen festgelegt werden (Fixierung der Null-Norm, Leitlinien- oder Bandbreiten-Norm, Indexierung , Gebote bzw. Verbote mit Sanktionen). In der Praxis sind vor allem kombinierte Lohn-Stop-Maßnahmen bzw. Lohn- und Preisbildungs-Leitlinien von Bedeutung. Sie wurden besonders in den siebziger Jahren angewendet, jedoch mit eher negativen Folgen: in den Ländern mit umfangreichen Lohn-Preis-Kontrollen waren die Inflationsraten sehr hoch, und die Kontrollen wurden nicht ständig eingehalten. Dies wird mit typischen Funktionsproblemen der Kontrollen erklärt, z.B. mit hohem Verwaltungsaufwand, großem Zeitbedarf, schlecht überprüfbaren Vorgängen der Einkommensumverteilung und negativen Allokationseffekten (Allokation). Andererseits ist nicht auszuschließen, daß die Inflationsraten ohne Lohn-Preis-Kontrollen noch höher ausgefallen wären (Cassel/Thieme, 1977).
3. 2. Indikative E. umfaßt Instrumente, die durch Bewertungsveränderungen der Alternativen die Wirtschaftssubjekte veranlassen, sich normgerecht zu verhalten (Rall, 1975). Dabei wird die einkommenspolitische Norm durch die staatlichen Instanzen vorgegeben. Die Entscheidungskompetenz für Preise und Löhne bleibt jedoch bei den Verbänden bzw. Unternehmungen (Betrieb, I.). Moralische Appelle sind die schwächste Form, Drohungen mit staatlichen Sanktionen sind erheblich schärfere Maßnahmen. Die Sanktionen werden wertlos, wenn sie häufig angewendet werden bzw. Ausweichmöglichkeiten (z.B. Steuerüberwälzung) bestehen. Andererseits dienen besonders steuerpolitische Maßnahmen als Sanktionen bzw. Anreize zu stabilitätskonformem Verhalten. So sieht der Vorschlag einer "Tax-Based Incomes Policy" (TJP) (Wallich und Weintraub, 1971) vor, daß Unternehmen, die einer über den Produktivitätsfortschritt (Produktivität) hinausgehenden Lohnerhöhung zustimmen, eine zusätzliche Einkommensteuer zahlen. Versuche zur Überwälzung von "Strafsteuern" sowie zur Durchsetzung festgelegter Verteilungsziele und Verhandlungsstrategien schränken die Anwendung dieser Instrumente indessen ein. Auch vermögenspolitische Instrumente werden im Rahmen der indikativen E. diskutiert (Investivlohn- bzw. Lohnfondskonzepte). In der Bundesrepublik Deutschland zeichnet sich die Tendenz ab, daß sofern überhaupt E. angestrebt wird , in zunehmendem Maße vermögenspolitische Maßnahmen sowie Variationen der Rahmenbedingungen angestrebt werden.
3. 3. Kooperative E. beteiligt die betroffenen sozialen Gruppen unmittelbar am einkommenspolitischen Entscheidungsprozeß. Die Mitwirkung kann sich sowohl auf die Formulierung als auch auf die Kontrolle einkommenspolitischer Normen beziehen. Anwendungsbeispiele sind die Paritätische Kommission für Preis- und Lohnfragen in Österreich (1957), der ökonomische Rat in Dänemark (1962), der Stabilisierungsvertrag in Finnland (1968), der Sozialökonomische Rat in den Niederlanden (1950) und die Konzertierte Aktion in der Bundesrepublik (1968). Die Wirkungen werden jedoch unterschiedlich beurteilt (Rall, 1975). Bei freiwilligen Verhaltensabstimmungen fehlen besonders die Entscheidungsbefugnisse. Deshalb werden verschiedene Typen einer formalisierten Kooperation als verbindliche Verhaltensabstimmung ein Koordinierungsrat oder ein Rahmenpakt vorgeschlagen.
3. 4. Neuere Entwicklungen. In der praktischen Wirtschaftspolitik der Bundesrepublik Deutschland hat die E. vor allem im Rahmen der Instrumente des Gesetzes zur Förderung der Stabilität und des Wachstums der Wirtschaft (1967) Bedeutung erlangt. Die darin festgelegte "konzertierte Aktion" wurde jedoch infolge verstärkter Auffassungsunterschiede zwischen den beteiligten Trägern und infolge der deutlicher werdenden Grenzen der Globalsteuerung nach anfänglichen Erfolgen nicht fortgeführt. Dagegen wurden in anderen europäischen Ländern (Österreich, Niederlande, Norwegen) wirksame Institutionen der E. geschaffen, die zur Stabilisierung der Einkommensentwicklung beitrugen. Aus monetaristischer Sicht kommt der E. allenfalls eine flankierende Rolle zu. Danach besteht ihre Aufgabe in der binnenwirtschaftlichen Absicherung der monetären Antiinflationspolitik (Cassel, Thieme, 1977). Nicht Maßhalteappelle, Lohn- und Preisleitlinien, sondern Revisionsklauseln im Tarifrecht, Auflagen zu Preiserhöhungen der Gebietskörperschaften und öffentlichen Unternehmen im inflationären Trend, jedoch auch Maßnahmen einer strengen Wettbewerbspolitik entsprechen diesem Konzept. Dagegen ist es aus neokorporatistischer Sicht erforderlich, den Verbindlichkeitsgrad der Vereinbarungen zwischen staatlichen Instanzen und Verbänden zu vermindern, die Dezentralität der Tarifverhandlungen und die Möglichkeit der Lohndrift als konfliktabsorbierende Mechanismen aufrechtzuerhalten und die Zusammenarbeit zwischen Regierung und Verbänden auf verschiedenen Politikfeldern zu stärken (Armingeon, 1983). Zugleich sind Regeln notwendig, die jede gesellschaftliche Gruppe besser stellen. Anreize für die Gruppen, sich an der Wirtschaftspolitik zu beteiligen, können durch Beteiligung am Volksvermögen, verstärkte Mitbestimmung , monetäre Transfers oder überdurchschnittliche Einkommenserhöhungen gewährt werden. Ein gesellschaftlicher Grundkonsens über die Anwendung der Instrumente ist jedoch die wesentliche Voraussetzung für eine erfolgreiche künftige E. (Frey, 1981).
Literatur: K. Armingeon, Neo-korporatistische Einkommenspolitik. Eine vergleichende Untersuchung von Einkommenspolitiken in westeuropäischen Ländern in den 70er Jahren. Frankfurt a. M. 1983. L. Ball/S. G. Cecchetti, Wage Indexation and Discretionary Monetary Policy. In: American Economic Review, Vol. 81, 1991, 1310-1319. G. Blümle/J. Klaus/A. Klose, Einkommen, in: Staatslexikon.
7. A., Bd. 2, Freiburg u.a. 1986, Sp. 178-196. K. Brunner/A. H. Meltzer (Hrsg.), Stabilization Policies and Labor Markets. Amsterdam 1988. D. Cassel/H. J. Thieme, Einkommenspolitik. Kritische Analyse eines umstrittenen stabilitätspolitischen Konzepts. Köln 1977. B. Esdar, Kooperation in der Einkommenspolitik. Schriften zur Kooperationsforschung 16. Tübingen 1980. B. S. Frey, Theorie demokratischer Wirtschaftspolitik. München 1981. G. Haberler, Incomes Policies and Inflation. An Analysis of Basic Principles. American Enterprise Institute. Washington D.C. 1971. J. Pätzold, Stabilisierungspolitik.
2. A., UTB, Bern, Stuttgart 1987. W. Rall, Zur Wirksamkeit der Einkommenspolitik. Tübingen 1975. B. Risch, Alternativen der Einkommenspolitik. Kieler Studien 180, hrsg. v. H. Giersch. Tübingen 1983. K. W. Rothschild, Einkommenspolitik oder Wirtschaftspolitik, in: E. Schneider (Hrsg.): Probleme der Einkommenspolitik. Tübingen 1965. H. Siekmann, Institutionalisierte Einkommenspolitik in der Bundesrepublik Deutschland. Studien zum öffentlichen Recht und Verwaltungslehre, Bd. 31. München 1985. M. Streit, Zum Stellenwert der Einkommenspolitik im Rahmen stabilisierungspolitischer Bemühungen, in: Wirtschaftspolitik in Theorie und Praxis, H. G. Schachtschnabel zum 65. Geburtstag gewidmet, hrsg. von E. Mändle, A. Möller, F. Voigt. Wiesbaden 1979. H. Wagner, Stabilitätspolitik.
2. A., München, Wien 1992. H. C. Wallich/S. Weintraub, A Tax-Based Incomes Policy, in: Journal of Economic Issues, 5, 1971. A. Woll, Inflationstheoretische Begründung der konzertierten Einkommenspolitik, in: E. Hoppmann (Hrsg.): Konzertierte Aktion Kritische Beiträge zu einem Experiment. Frankfurt 1971. A. Woll, Wirtschaftspolitik.
2. A., München 1992.
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