Geschichte der Wirtschaftswissenschaft
1. Anfänge der Wirtschaftswissenschaft.
1. 1.Antike und Mittelalter. Die Ursprünge der Wirtschaftswissenschaft liegen in der Philosophie der griechische Antike. Über islamische, jüdische und christliche Scholastik ist die sokratische Ökonomik in die Wirtschaftslehren der heutigen Weltreligionen eingegangen. Auf der Suche nach Kriterien der Gerechtigkeit einer selbstgenügsamen, stationären Gesellschaft stießen Plato und Aristoteles auf erste wirtschaftstheoretische Probleme (Funktionen von Arbeitsteilung , Geld und Zins , Beziehung zwischen Tausch- und Gebrauchswert). Römische Juristen steuerten den Begriff der Opportunitätskosten (Kosten) bei. Scholastiker begründeten sowohl die "objektive" (Albert d.Gr., Thomas v. Aquin), als auch die "subjektive" (Buridanus) Wertlehre . Erste Vorstellungen eines Marktgleichgewichtes ließen in der Spätscholastik (Salamanca) den "gerechten" zum "natürlichen" Preis werden.
1. 2.Merkantilismus. Zu Beginn der Neuzeit verschob sich das Interesse auf das Wachstum der Nationalstaaten und Handelsgesellschaften. In wirtschaftspolitischen Pamphleten zu Fragen v.a. der Handelsbilanz , des Geldwertes und der Beschäftigung entwickelten Philosophen, Kaufleute, Staatsbeamte und Abenteurer neue analytische Werkzeuge und ökonomische Einsichten ohne einheitliche Doktrin. Viele Merkantilisten sahen in der Geldvermehrung durch Handelsbilanzüberschüsse ein Mittel, gesamtwirtschaftliche Güternachfrage, Wachstum und Beschäftigung anzuregen. Daneben wurde die Quantitätstheorie des Geldes entwickelt (Bodin, Davanzati, Montanari), verfeinert (Locke, Cantillon, Hume) und kritisiert (Law, Steuart). In der Wertlehre folgten die Angelsachsen (Petty, Cantillon) dem "objektiven", die Italiener und etliche Franzosen dem "subjektiven" Ansatz. Die deutsch-österreichischen Kameralisten (Becher, Hörnigk, Justi) (Kameralismus) befaßten sich vorwiegend mit Verwaltungsfragen ihrer absolutistischen Fürsten und legten die Grundlagen der deutschen Finanzwissenschaft . Die Politischen Arithmetiker (Graunt, Petty, King, Süssmilch) leiteten die Epoche der Statistik und späteren Ökonometrie ein.
1. 3.Physiokratie. Das Fiasko des französischen Merkantilismus (Colbertisme) führte zu einer agrarorientierten Opposition, die nach Mitte des 18. Jh. in der physiokratischen Schule von François Quesnay gipfelte. Seine, in vielem von Cantillon vorweggenommene, Lehre umfaßte die Philosophie eines selbstgesteuerten ordre naturel und einer vom produit net der Landwirtschaft lebenden Klassengesellschaft, eine "klassische" Kapitaltheorie und eine auf Steuerüberwälzung beruhende Finanztheorie (impôt unique). Der "aufgeklärte Despot" sollte sich regulierender Eingriffe in das "natürliche" System enthalten (laissez faire (Laissez-faire-Liberalismus)). Die Physiokraten (les économistes) gaben der Klassik wesentliche Impulse (das Tableau économique gilt als erstes makroökonomisches Kreislaufmodell), degenerierten aber rasch zu einer unbedeutenden Sekte. Eine eigenständige Weiterführung ihrer Kapital-, Wert-, und Produktionstheorie findet sich bei Turgot.
2. Klassik.
2. 1. Klassische Orthodoxie. Die Interpretation der Wirtschaft als ein über den Preismechanismus (Preisfunktion) selbstgesteuertes System wurde von Spätmerkantilisten (Cantillon, Hume) vorbereitet, von Adam Smith (1776) zum Kernstück der Klassik erhoben, von David Ricardo (1817) systematisiert und von John Stuart Mill (1848) zum vorläufigen Abschluß gebracht. Während sich Smith vorwiegend mit den Quellen wirtschaftlichen Wachstums (Arbeitsteilung, Marktumfang, Sparen) und den Wohlfahrtsaspekten des Wettbewerbs ("unsichtbare Hand") befaßte, wandte sich Ricardo der Verteilung des Volkseinkommens (Einkommensverteilung, funktionelle Einkommensverteilung,
3. 1.) zu: Der Tauschwert reproduzierbarer Güter nähert sich der in den Waren verkörperten Arbeitszeit (Arbeitswerttheorie) an; der Reallohn sichert die Reproduktion der Arbeitskraft und ist langfristig vom Existenzminimum (Malthus), kurzfristig vom Lohnfonds determiniert (funktionelle Einkommensverteilung,
3. 1.). Aus dem Ertragsgesetz der Agrarproduktion leiteten 1815 Malthus, West, Torrens und Ricardo die Theorie der Differentialrente (Rente) her. Daraus folgte das Gesetz der fallenden Profitrate und die Entwicklung zur stationären Wirtschaft ,allenfalls durch technischen Fortschritt und Ausweitung der Märkte (Freihandel) gebremst. Der in klassischer Sicht "unproduktive" Staat hatte sich auf die Erhaltung marktwirtschaftlicher Rahmenbedingungen zu beschränken. Wichtige Etappen der Theorieentwicklung waren die Diskussionen um das Gesetz der Absatzwege (Say, Ricardo vs. Malthus) und um die Notenbankpolitik (Bullion und Banking-Currency-Kontroverse).
2. 2.Gegenströmungen. Obwohl die Smith-Ricardianische Doktrin in Großbritannien bald dominierte, war sie doch auch dort von Anfang an umstritten. Zu den frühen britischen Kritikern der Smithschen Interessenharmonie, der Werttheorie Ricardos oder der deduktiven Methode generell (Lauderdale, Bailey, Whewell, Jones, Rae, Senior) gesellten sich in Deutschland Friedrich List und die Vertreter der älteren historischen Schule (Roscher, Hildebrand, Knies). Sie setzten der ahistorisch generalisierenden Methodik und der "kosmopolitischen" Freihandelsdoktrin die historische Relativierung ökonomischer Beziehungen (Entwicklungsstufen) und eine auf nationale Eigenheiten zugeschnittene Wirtschaftspolitik (Erziehungszölle (Zoll,
2.)) entgegen. Ricardianischer Denkweise enger verbunden waren die englischen Sozialisten (Thompson, Hodgskin, Gray) und Karl Marx, der Hegelsche Dialektik mit Ricardos Arbeitswertlehre zu einer umfassenden Geschichtsphilosophie (dialektischer Materialismus) vereinigte.
3. Neoklassik.
3. 1. Marginalismus. Ab etwa 1860 stagnierte das klassische Forschungsprogramm. Vorläufer der Grenzanalyse (Bernoulli, v. Thünen, Cournot, Dupuit, Gossen) hatten bei ihren Zeitgenossen kaum Gehör gefunden. Erst die "marginalistische Revolution" ab 1871 (Jevons, Menger, Walras) brachte der theoretischen Ökonomie neue Impulse: Die Ausweitung des Tauschprinzips vom Handel auf Konsum und Produktion erlaubte nun, Güter- und Ressourcenverbrauch als Ergebnis individueller Optimierung zu analysieren und Nachfrage- wie Angebotstheorie zu vervollständigen. Die Grenznutzenanalyse löste elegant Jahrhunderte alte Paradoxa (z.B. Tauschwert von Diamant und Wasser; Wertparadoxon, s. Grenznutzenanalyse) und öffnete verbessert als Indifferenzkurvenanalyse (Edgeworth) den Zugang zur neoklassischen Wohlfahrtstheorie (Wohlstandsökonomik) (Pareto, Pigou). Die Grenzproduktivitätstheorie (Wicksteed, J. B. Clark) legte die Dualitäten von Allokation und Verteilung, sowie von Faktor- und Renteneinkommen offen. Während sich Marshall um Kontinuität der Klassik bemühte (kurzfristiges "Scheren"diagramm, langfristige Dominanz "klassisch" konstanter Stückkosten); folgte die österreichische Wert- und Kapitaltheorie (Wieser, Böhm-Bawerk) einem betont subjektivistischen Ansatz. Die statische Analyse des allgemeinen Gleichgewichts (Walras, Pareto) fand um die Jahrhundertwende ihre dynamische Ergänzung in der Geld- und Zinstheorie Wicksells. Die Quantitätstheorie des Geldes stellte sich in Form der Tauschgleichung (Newcomb, Fisher) als Theorie des Preisniveaus , im "Kassenhaltungs-Ansatz" (Marshall, Pigou) als Theorie der Geldnachfrage (Geldnachfrage) dar.
3. 2. Gegenströmungen. In Deutschland herrschte um die Jahrhundertwende neben der sozialrechtlichen (Wagner, Diehl) vor allem die jüngere historische Schule (Historische Schule) (Schmoller, Knapp, Bücher, Brentano), die die wirtschaftsthistorische und statistische Forschung kräftig anregte. Ihr Ggs. zur österreichischen Neoklassik kam 1883 im Methodenstreit zwischen Schmoller und Menger zum Ausbruch. Der Verein für Socialpolitik diente den "Kathedersozialisten" anfänglich als Forum einer von Max Weber und Sombart kritisierten "ethischen Wissenschaft" (Werturteilsstreit). Die Verbindung von "verstehender" Wirtschaftswissenschaft, Soziologie, Geschichte und Staatsphilosophie mit skeptischer Distanz zu generalisierender Theorie hielt sich in Deutschland bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges. Dieser Tradition nahe standen die zumeist sozialkritischen Institutionalisten in England (Leslie, Ingram, Hobson) und den USA (Commons, Veblen, Mitchell, J. M. Clark). Zu den Versuchen, Historik mit dynamischer Analyse zu vereinen, ist v.a. Joseph Schumpeters Theorie der kapitalistischen Entwicklung zu rechnen.
4. Gegenwart
4. 1.Keynesianismus und Monetarismus. Die Depression der 30er Jahre (Große Depression) schien die neoklassischen Paradigmen (rationale Investitionsentscheide, markträumende Preise und Löhne, Neutralität des Geldes) zu widerlegen. 1936 brachte John Maynard Keynes z.T. schon bereits bekannte Theorieelemente (Konsum- (Konsumtheorie,
2.) und Investitionsneigung, Liquiditätspräferenz , Einkommensmultiplikator) in ein vieldeutiges Makrosystem: Hicks erklärte es zum Grenzfall der Neoklassik (IS-LM-Modell), Joan Robinson sah in ihm eine Weiterführung der Marxschen Reproduktionstheorie, andere Keynesianer (Lerner, Klein, Hansen) stutzten es zu einem handfesten Fiskalismus (Fiskalismus,
2.) zurecht. Die Ergänzung des kurzfristig-statischen "Keynes"-Modelles mit langfristigen Aspekten löste eine vorübergehende Blüte Keynesianischer (und neoklassischer) Wachstumstheorien aus. Nach dem Zweiten Weltkrieg eroberte die "Keynesianische Revolution" die westliche Wirtschaftspolitik (Theorie der Wirtschaftspolitik), bis mit der Inflation der späten 60er Jahre die von Milton Friedman geführte "monetaristische Konterrevolution" an Einfluß gewann. Die seitherigen Scharmützel führten zu Neuinterpretationen sowohl des Keynesianismus (Tobin, Leijonhufvud) als auch der Neoklassik (Lucas) und zu einer weitgehenden Annäherung der theoretischen (wenn auch nicht politischen) Standpunkte (vgl. auch Keynessche Theorie, Inflationstheorie ,
3. 1., hier: Monetarismus I, Neoklassische Theorie).
4. 2.Heutige Richtungen. Heute scheint sich die Wirtschaftswissenschaft in raschem und tiefgreifendem Wandel zu befinden. Am augenfälligsten ist das Vordringen mathematischer Methoden in Theorie, Empirie (Ökonometrie) und Praxis (Operations Research). Der theoretische Kern des neoklassischen Forschungsprogramms wurde von beengendem Ballast befreit: Die Theorie der monopolistischen Konkurrenz (Chamberlin, Robinson), die Einführung von Transaktions- (Kosten) und Informationskosten, von risikobehafteten Entscheidungssituationen (Portfoliotheorie), Ungleichgewichts- und Spieltheorie haben den traditionellen Modellen homogener, reibungs- und risikoloser, transparenter und eindeutiger Konkurrenzmärkte neue Dimensionen verliehen. Die neoklassische Wohlfahrtstheorie wurde um die Theorie der Externalitäten (externe Effekte) und öffentlichen Güter (Samuelson) erweitert und durch das Arrow -Paradoxon in ihren Grundlagen erschüttert; an ihre Stelle traten Kontrakt-Modelle der Fairness (Rawls), der Prozeßgerechtigkeit (Hayek, Nozick) und der Public Choice-Theorie (Buchanan, Tullock). Die Annahmen differenzierbarer Nutzen- und Produktionsfunktionen wurden mit der Aktivitätsanalyse (Koopmans) und der Konsumtheorie Lancasters überflüssig. Schließlich ist auch das Bild des nutzenmaximierenden homo oeconomicus durch die Theorie der eingeschränkten Rationalität (Simon) stark relativiert worden. Geblieben ist an neoklassischen Paradigmen nur noch die handlungstheoretische Maxime, soziale Phänomene auf das Zusammenspiel individueller Optimierungsentscheidungen zu reduzieren. Das öffnet den Zugang zu neuen bzw. seit der frühen Klassik vernachlässigten Problemfeldern, zu einer Ökonomik außermarktlicher Prozesse (Familie, Gesundheit, Umwelt, Eigentumsrechte (Theorie der Property Rights), politische Entscheidungen, bürokratisches Verhalten, rationale Erwartungen, Untergrundwirtschaft). Neben solcher Metamorphose neoklassischer Wirtschaftswissenschaft zu einer allgemeinen Theorie menschlichen Verhaltens sind auch Anzeichen neuer Gegenströmungen nicht zu verkennen: Renaissance Ricardianischer Klassik (Sraffa), Apriorismus linker Radikaler und libertärer Neo-Österreicher, postkeynesianischer Institutionalismus und wissenschaftstheoretische Richtungskämpfe Indizien einer lebendig gebliebenen Wissenschaft.
Literatur: M. Blaug, Economic Theory in Retrospect.
4. A., Cambridge 1985; Deutsch: Systematische Theoriegeschichte der Ökonomie. München 1971-75. J. Niehans, A History of Economic Theory: Classic Contributions 1720-1980. Baltimore/London 1990. J. A. Schumpeter, History of Economic Analysis. London 1955; Deutsch: Geschichte der ökonomischen Analyse. Göttingen 1965. H. W. Spiegel, The Growth of Economic Thought.
3. A., Durham 1988. J. Starbatty, Klassiker des ökonomischen Denkens. 2 Bde. München 1989.
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